Amerika an der Oder entdecken

Vor dem Supermarkt in Beeskow im Landkreis Oder-Spree ist ein großer Parkplatz. Wenn dort am Abend kurz vor Ladenschluss schwere Pickups vorfahren, braucht es nicht viel, um sich vorzustellen, man wäre nicht im Osten Deutschlands, sondern im Mittleren Westen der USA. Beim Fleischer in Ranzig werden Spare Ribs statt Rippchen angeboten. Zwischen den aus Trümmersteinen und Lehm gebauten Neubauernhäusern am Ortsrand steht neuerdings ein Holzhaus. Weiß gestrichene Stülpschalung. Es wird das »Weiße Haus« genannt. Eine Nachbarin hat ihr Wohnzimmer mit der Freiheitsstatue und New Yorker Taxis dekoriert. In manchem Vorgarten flattert die Fahne der im Amerikanischen Bürgerkrieg 1861/65 unterlegenen Südstaaten. Haben Sie dafür eine Erklärung? Ich nicht. Aber wir stellen staunend fest: Obwohl es hier wohl deutlich mehr Polen, Syrer, Türken und Russen als US-Amerikaner gibt, spielt die Kultur der Vereinigten Staaten im Osten Brandenburgs eine große Rolle.

Auf meinem Tisch liegt ein silbernes Buch, handtellergroß, daumendick. »Countryside, a Report«, der Katalog einer Ausstellung, die bis Ende August im Guggenheimmuseum in New York läuft. Kuratiert von einem Niederländer – Rem Kohlhaas. Als ich mir das Buch bestellt habe, Anfang März, hatte ich auch nachgesehen, was es kosten würde, im Sommer nach New York zu fliegen. Die Ausstellung wäre ein guter Vorwand gewesen und man hätte versuchen können, die Kolleginnen am Museum of Modern Art zu treffen, die gerade die Simson S50 aus dem VEB Ernst-Thälmann-Werk Suhl erforschen, um mit ihnen über Design aus der DDR zu sprechen. 

Keine Ahnung, ob man in absehbarer Zeit wieder nach New York kommen kann. Dreißig Kilometer östlich von mir ist die Grenze dicht. Auch im Westen, Süden, Norden: Schlagbäume, die die Verbreitung eines Virus stoppen sollen. Es fühlt sich beklemmend an und schmerzt, das silberne Büchlein zu sehen, wenn man plötzlich abgeschnitten ist von der Welt. New York ist vorerst unerreichbar. Abgeschnitten zu sein ist übel. Als »abgehängt« bezeichnet zu werden ist schlimmer. 

Im Beeskower Regionalmuseum, das näher liegt als New York, gibt es ein kleines Keramikschälchen zu sehen. Ich hatte es sogar schon einmal in den Händen. Es ist erstaunlich fein und dünnwandig gearbeitet und liegt gut in der Hand. In seiner Mitte wölbt sich ein kleiner Huckel, in dessen Unterseite man eine Fingerspitze legen und das Schälchen sicher balancieren kann. Archäologen datieren es in die Zeit zwischen 500 und 50 vor unserer Zeit. 

In dieser Zeit hatte man in Ostbandenburg keine Ahnung von Amerika. Aber die damaligen Bewohner waren sicherlich ein selbstbewusster Teil ihrer Welt. Sie blickten auf eine lange Tradition zurück. Seit gut tausend Jahren siedelten sie hier. Wir wissen nicht, wie sich diese Menschen nannten. Die Wissenschaftler sprechen von der „Lausitzer Kultur“. Wobei diese nicht nur in der Lausitz heimisch war. Vielmehr erstreckte sie sich über ein Gebiet, das im Osten bis ins östliche Polen und im Westen bis nach Thüringen reichte. Im Norden bildete die Ostsee, im Süden das Slowakische Erzgebirge eine natürliche Grenze. Die Oder war damals eine Art Autobahn in Richtung Schwarzes Meer, auf der Honig, Pelze, Bernstein befördert wurde. 

Damals machte sich unter den Bewohnern unserer Gegend eine neue Sitte breit. Zum Essen lümmelte man sich auf eine Art Liege und trank – wahrscheinlich alkoholische – Getränke aus Schälchen. Diese neue Sitte hatte sich ausgehend von Griechenland über den Balkan und den Donauraum bis nach Beeskow verbreitet. Sie nannte sich „symposion“ und war vermutlich totschick. Wer im Liegen trinkt, kann zwar auch einen Becher benutzen. Aber das sieht wenig elegant aus. Aus einem Schälchen zu nippen, so wie es die Griechen taten, machte mehr her und gab allen, die mittranken, das Gefühl, modisch auf der Höhe der Zeit zu sein.

Wer in zweitausend Jahren unsere Zeit archäologisch auswerten wird, wird vielleicht auf die Getränkehalter der Pickups stoßen. Welchen Reim wird man sich auf sie machen? Vielleicht werden die Archäologen schlussfolgern, dass wir Menschen waren, die tranken, während sie Auto fuhren. Vergleichsstudien und Doktorarbeiten würden schlussfolgern, dass es einen intensiven kulturellen Austausch mit Nordamerika gab. Vielleicht lässt sich auch belegen, dass es zu Beginn 21. Jahrhunderts massive klimatische Veränderungen gab, Dürren, Seuchen, ökonomische Krisen. Archäologen werden dann beweisen, dass auch in unserer Zeit die ländlichen Regionen Europas Teil der Welt waren. Nicht abgehängt von ihr, sondern auf das Engste mit ihr verstrickt. Wie in der Bronzezeit. Nur mein Fernweh in diesen Tagen wird archäologisch nicht nachweisbar sein.

19. September 2020