Vielleicht mochte ich das alte Bunt lieber

In vielen Städten gibt es derzeit Initiativen, die auf das Bunte zielen. Sie heißen „Sowiesostadt ist bunt“ oder „Soundsoberg ist bunt.“ Das „bunt“ hat nichts mit der „Bunten“ zu tun, dieser Zeitschrift mit Promi-Fotos. Die stammt aus einer ganz anderen Zeit, als „bunt“ noch Assoziationen wie abwechslungsreich, unterhaltsam und unzusammenhängend weckte, wahrscheinlich auch oberflächlich. Damals war ich noch ein Kind. Im Osten gab es den „Kessel Buntes“ und man sprach vom Buntfernseher. Nina Hagen rief in ihrem herrlichen Song „Ich glotz TV“: „Ist alles so schön bunt hier, ich kann mich gar nicht entscheiden!“ Damals konnte „ziemlich bunt“ auch bedeuten, dass jemand einen leichtsinnigen Farbgeschmack bewies.

Heute sind all diese Bedeutungen in den Hintergrund getreten. „Bunt“ steht für eine ganz bestimmte Weltanschauung, es ist jedenfalls nicht braun, obwohl braun ja ein Teil von bunt sein müsste und obwohl die AFD sich ja das Blau gewählt hat, aber das wird ihr nicht geglaubt.

Wenn ich mir den ersten Absatz dieses Textes so durchlese, hat es beinahe den Anschein, als wolle ich mich darüber lustig machen. Das ist nicht der Fall. Vielleicht bemühe ich mich um einen heiteren Tonfall, weil mir das Heitere in der gegenwärtigen Form des Bunten so fehlt. Aber ich will mich nicht lustig machen, auf keinen Fall. Denn erstens sehe ich, dass die Leute, die sich in den bunten Aktionen engagieren, es ernst meinen, und außerdem ist es mir auch selbst ernst mit dieser Sache. Obwohl ich doch denke, es wäre gut, wenn wir nicht alle so ernst wären. Mein Vater hat mir von der Flucht im Krieg und der Armut hinterher erzählt, die seine Familie viele, viele Jahre umklammert hielt. Das war alles schlimm, sie hatten Hunger, wurden behandelt wie der letzte Dreck und der Papa kam nie wieder aus dem Krieg nach Hause. Aber gelacht und gesungen haben sie trotzdem mehr als heute. Vielleicht geht es uns einfach zu gut.

Übrigens glaube ich, dass Udo Lindenberg mit diesem Bunten angefangen oder es jedenfalls in seiner neuen Bedeutung geprägt hat. Er brachte 1989 eine Platte heraus, die hieß „Bunte Republik Deutschland“. Sie hatte immer noch Sprachwitz und ich hörte sie gern. Allerdings fiel mir seinerzeit schon auf (ich war damals zwanzig), dass der gute Udo in seinen Texten auf einmal etwas Erzieherisches hatte. Das irritierte mich, aber ich dachte nicht weiter darüber nach. Vielleicht hätte ich das tun sollen, dann hätte ich manche Erkenntnisse früher machen können und müsste mir heute nicht so mühsam zusammenreimen, was eigentlich in den letzten dreißig Jahren mit uns passiert ist. Vielleicht hat das ja alles nämlich viel früher angefangen, als man heute denkt.

Jedenfalls bekam ich nun eine Einladung, an dem Aktionstag „… ist bunt“ meiner nächstgelegenen Kleinstadt mitzuwirken. Noch einmal möchte ich festhalten, dass ich die Motive der Initiatoren nicht in Zweifel ziehe. Sie wollen sich mit den neu hier angekommenen Menschen solidarisieren und sie vor Fremdenfeindlichkeit schützen, und dafür möchten sie ein Zeichen setzen. Aber mir war trotzdem nicht wohl. Ich denke, in einer Stadt, in der etwa ein Drittel der Bewohner die AFD gewählt hat, muss man schon darüber nachdenken, wie man die Leute anspricht. Und da jeder weiß und auch in der Pressemitteilung dieser Initiative zu lesen war, dass der Aktionstag ein Statement gegen die AFD sein sollte, habe ich mich gefragt, wie jene, die diese Partei gewählt haben, sich denn nun fühlen sollen. Ob sie überhaupt eingeladen sind? Doch eher nicht, jedenfalls nicht, ohne ihrer Wahlentscheidung abzuschwören.

Ich musste in diesem Zusammenhang an den guten alten Spruch „Nazis raus“ denken. Der war in einer Zeit beleibt, als sich die rechten Jugendkulturen ausbreiteten, vor denen ich geradezu Angst hatte. Ich wohnte damals in Berlin-Lichtenberg und dachte immer, oh Gott, was ist, wenn ich so einer Horde Faschos in die Arme laufe? Die hätten mich bestimmt sofort als linke Zecke erkannt und zusammengeschlagen. Ich habe damals oft gegrübelt, was ich wohl tun würde, wenn ich einmal, in der U-Bahn sitzend, jemandem zu Hilfe eilen müsste, aber vielleicht gar nicht den Mut aufbringen würde. Und doch habe ich mich schon damals gefragt, wo das „raus“ eigentlich ist. Wo sollen denn diese Leute hin? Diese Frage scheint mir heute noch viel wichtiger als damals, zumal das Etikett „Nazi“, AFD hin oder her, heute sehr leichtfertig verklebt wird und wir also hier über eine ganze Menge Menschen sprechen.

Nun hatte ich also das Gefühl, bei der bunten Sache nicht mitmachen zu wollen. Und in der Tat lag das ausschließlich an diesem Slogan. Hätten die beteiligten Gruppen und Parteien einfach gesagt: Wir machen ein Stadtfest und alle sind eingeladen – ich wäre dabei gewesen. Es wäre ja an der Liste der Einladenden für jedermann ganz sonnenklar gewesen, was das für ein Fest ist und wofür diese Leute stehen. Aber es hätte ohne die moralische Abwertung des politischen Gegners eine freundliche und ehrliche Einladung an dessen Wähler sein können. Und das war nun gerade nicht der Fall. Denn mit der Überschrift sagte man auch: Diese Stadt ist bunt, und zwar so, wie wir bunt definieren. Und wer das nicht so sieht, kommt in dieser Stadt gar nicht vor. Das kann nicht gut gehen, finde ich.

Inzwischen war ich übrigens mit der Impulsgeberin der hiesigen Aktion spazieren. Wir sind uns in der Sache vielleicht nicht ganz einig geworden, aber es war gut, sich in die Augen zu schauen und sich zu versprechen, im Gespräch zu bleiben.

Unterdessen fragte mich jemand, wie viele der Bewohner meines Dorfes eigentlich rechtradikal seien. Ich weiß bis heute nicht, was damit eigentlich gemeint war, außer: Wie viele wählen die AFD? Das konnte ich natürlich nicht beantworten, denn Wahlen werden bei uns immer noch geheim durchgeführt und mein Dorf wird nicht einzeln ausgezählt, es ist nur en Ortsteil.

Bei meinem Dorf handelt es sich um eine alte Vorwerkssiedlung, in der es seit Jahren erstaunlich viele Kinder gibt. Das einst von einer Dorfbewohnerin organisierte Kindertagsfest wurde aber irgendwann aufgegeben, da die Gemeinde ihre Unterstützung entzog. Ich glaube, das hat die Initiatorin damals frustriert, zu Recht. Seither gibt es keinen Anlass mehr, sich zu treffen. Man grüßt sich aus dem Auto oder beim Spaziergang, selten mehr. Ich weiß nicht viel über diese Nachbarn, aber es sind Nachbarn, oder? Jedenfalls machte ich nun einen Flyer für jeden Briefkasten und sagte: Am kommenden Sonnabend stehe ich um 17 Uhr auf dem Spielplatz mit einem Grill, 50 Bratwürsten und einem Kasten Bier. Kommt doch vorbei, und wer mag, bringe was mit! Meine Frau warf den Flyer ein und holte Brötchen, ich besorgte den Rest.

Was soll ich sagen? Es war wunderschön. Mehr als die Hälfte der Leute kamen, alle brachten was mit. Die Kinder spielten Federball und stromerten im Dorf herum. Schwuppdiwupp hatten andere noch Stühle und Bänke herangeholt und Musik angemacht, und als es später dunkel wurde, machte jemand Licht. Ich fand die Zeit, mit fast allen zu sprechen. Meine Nachbarn lachten viel, aber im Gespräch machten sie einen nachdenklichen Eindruck auf mich. Keiner warf mit Parolen um sich. Man erzählte etwas von seinem Alltag, ein wenig über Corona und Afghanistan, ein bisschen über die Kinder. Die Leute waren gut informiert und machten sich so ihre Gedanken. Einer saß um Mitternacht unterm Walnussbaum und sagte: Es ist so schön hier, hier müsste man öfter sitzen.

Ja, das sollte man. Im Dezember schenken wir an derselben Stelle einen Punsch aus.

17. September 2021