Eine scholastische Gesellschaft

Unsere Gemeinde besteht aus sieben Dörfern und einigen weiteren Siedlungsflecken. Um über die Neuigkeiten und kommunalpolitische Fragen in diesen Orten zu informieren, Informationen auszutauschen und dörfliche Probleme zu diskutieren, gebe ich mit einigen Mitstreitern eine kleine Zeitung heraus. Sie erscheint dreimal im Jahr und es gibt dabei einen einfachen Grundsatz: Je mehr Leute in der jeweiligen Ausgabe zu Wort kommen, umso gelungener und lesenswerter ist sie.

Eben diese breite Beteiligung bildet aber eine Hürde: Nicht alle schreiben gern. Die meisten sagen, sie hätten keine Zeit. Aber es ist eher so, dass sie nicht an das Schreiben gewöhnt sind. Es macht ihnen Scherereien, Mitteilungen zu verfassen, meist scheitert es schon an der Frage, was überhaupt mitteilenswert ist. Deshalb bin ich dazu übergegangen, die Leute zu fragen und ihre Auskünfte dann aufzuschreiben. Das klappt gut.

Gestern sprach ich mit Christian. Er ist Landwirt in meinem Nachbardorf und ich wollte von ihm wissen, wie die Ernteerträge des Jahres ausgefallen sind – in seinem Betrieb und, sofern er dazu etwas sagen kann, in der Region. Er gab mir gern Auskunft. Der Einfachheit halber gebe ich hier einmal wieder, was ich anschließend für die Zeitung aufgeschrieben habe.

Christian Leupelt, Landwirt in Altreetz, berichtet über die Ernteerträge des Jahres. Im Vergleich zum Vorjahr seien die Ernten durchaus besser ausgefallen. Die Gerste zum Beispiel konnte die Frühjahrsfeuchtigkeit nutzen und ist deshalb gut aufgegangen. Allerdings hatte der Weizen schwierige Bedingungen, sodass der bloße Anschein satt stehender Felder leider trog. So gab es im Frühjahr noch einmal einen Tiefstwert von 9 Grad Minus, der die Entwicklung der Pflanzen zurückwarf, später aber folgten fünf Tage, an denen hintereinander 25 Grad Celsius die noch nicht genug entwickelten Pflanzen zur Abreifung brachten. Das Ergebnis war eine so genannte Kleinkornbildung, die eine Verwertung als Brotgetreide verhinderte bzw. erschwerte. Ähnliche Probleme gab es in ganz Nordostdeutschland bis Mecklenburg hinein, auch beim Roggen, bei dem man geradezu von Missernten sprechen kann. In Altreetz hat man bisher knapp 400 mm Niederschlag gemessen. Das könnte ausreichen, wenn die Verteilung günstiger wäre. So hatte man Niederschläge von 80 mm auf einen Tag, dann aber viele Wochen Trockenheit. Den Maisertrag des Jahres schätzt Leupelt als durchschnittlich ein, die Sonnenblumen hatten erst mit Kälte, dann mit Wassermangel zu kämpfen, sind aber nun gediehen. Immer schwieriger wird der erfolgreiche Anbau von Zuckerrüben, die durch eine Zikade geschädigt werden, welche sich aufgrund der steigenden Temperaturen immer mehr bei uns ausbreitet. Durch diesen Schädling entwickeln die Früchte ein Syndrom für niedrigen Zuckergehalt, was die Verwertung erheblich verschlechtert. Da auch der Anbau von Raps problematischer wird (das Saatgut darf nicht mehr gebeizt werden, weshalb die vielen Rapsschädlinge später mit Agrochemikalien in Schach gehalten werden müssen, was auch Landwirten keine Freude macht), wird es immer schwieriger, geeignete Zwischenfrüchte für eine gute Fruchtfolge zu finden. Eine Alternative sind Leguminosen (Erbsen oder Bohnen), die aber allein nicht rentabel sind, sofern sie nicht über das so genannte „Greening“ Prämien bekommen. Dieses aber steht wiederum dem Pflanzenschutz im Weg, der für eine erfolgreiche Kultivierung meist unerlässlich ist. In Leupelts Betrieb fiel die Grassamenernte gut aus, hier bewährt sich auch ein seit einiger Zeit eingesetzter Bakteriendünger, mit dem der Luftstickstoff wird auf dem Blatt gewonnen werden kann. Somit hat sich auch der ökologische Teil des Betriebes in diesem Jahr gut entwickelt.  

Soviel zur Ernte in Altreetz. Gesprochen haben wir etwa zehn Minuten und es hätten gern auch zwei Stunden werden können, denn Christian weiß viel und er setzt alle Dinge, die seine Arbeit betreffen, virtuos zueinander in Beziehung. Er spricht über Saatgut und Wetter, Marktpreise, Schädlinge und Konkurrenzsteuerung, über Pflanzenwachstum, Agrarförderung und über Düngemethoden, als hätte er Jonglierbälle in der Hand. Es ist fantastisch. Wie macht er das, welche Struktur liegt diesem Wissen zugrunde, das beinahe wie von allein zu sprudeln scheint?

Dieses Wissen hat ein Zentrum, das ist der tätige Mensch, der in einem praktischen Prozess steht, in den nun verschiedenste Informationen aus allen möglichen anderen Wissensuniversen integriert werden können. So entsteht ein lernendes System, in dem neue Informationen aufgenommen und die bereits vorhandenen ständig überprüft und abgewogen werden. Auf diese Weise wird die Qualität dieses Wissens immer weiter verbessert. Das nennt man Erfahrung.

Seit über zwanzig Jahren spreche ich mit Menschen über ihre Arbeit in der Landschaft. Es sind Landwirte, Forstleute, Naturschützer, Bürgermeister, Ortsvorsteher, Vereinsleute und Einzelkämpfer, Frauen und Männer, junge und alte, lang Ansässige und neu Zugezogene. Fast jedes Gespräch ist ein Gewinn. Wer aus seiner eigenen Erfahrung heraus spricht, steht auf gutem Grund. Die Beschreibung der eigenen Praxis schützt vor übereilten Schlüssen, unbegründeten Ängsten, übersteigerten Erwartungen und geborgten Urteilen. Wer über seine Arbeit spricht, redet nicht über Dinge und Meinungen, die irgendjemand anders geäußert hat, er redet über seine Beziehung zur Welt. Es ist die integerste Form des Wissens, die ich kenne, weil die Empirie, die ihm zugrunde liegt, offen zutage liegt. Die Beschreibungen, von denen ausgehend sich dieses Wissen aufbaut, sind anschlussfähig, man kann sie überprüfen, erweitern und kritisieren. Das wirkt wiederum auf ihre Qualität zurück. Es kommt sehr selten vor, dass ich Grund habe, an der Verlässlichkeit der Aussagen zu zweifeln, die in diesen Gesprächen gemacht werden.

Wenn ich die Texte lese, die auf dieser Grundlage entstehen, bin ich oft bewegt von der Klugheit und Bescheidenheit dieser Menschen und vom Reichtum ihres Wissens. Aber es ist nicht so einfach, diese schöne Erfahrung weiterzutragen. Mir scheint sogar, dass das Erfahrungswissen in unserer Gesellschaft zunehmend ausgegrenzt wird, sodass ihm die Anerkennung als einer, ja als der zentralen Wissensform streitig gemacht wird.

Der Agrardiskurs wird weitgehend ohne Landwirte geführt, er ist ein Pingpongspiel zwischen Politik, Wissenschaft, NGOs und den Medien. Die Landwirte laufen durch die Fernsehbilder und sie dürfen auch mal was sagen, aber als Menschen, die etwas wissen, werden sie nicht behandelt.

Der Gesundheitsdiskurs kommt fast gänzlich ohne jene aus, die an der Gesundheit der Menschen arbeiten. Beinahe zwei Jahre erleben wir nun, wie Wissenschaftler, Gesundheitspolitiker und Journalisten dieses Feld bestellen und die Pfleger und Ärzte selbst, wenn überhaupt, nur auf Verbandsebene sprechen, also als Interessengruppen dargestellt werden.

Und auch im Diskurs über die Bildung werden wir von früh bis spät mit Studien und Expertenmeinungen überhäuft, aber die Lehrerinnen und Erzieher fragt niemand, wie sie ihre Arbeit machen und was sie zur Verbesserung des Bildungssystems beizutragen haben.

Andere Berufsgruppen, wie zum Beispiel das Handwerk, werden im Diskurs über unsere Gesellschaft fast vollständig ignoriert. Deshalb scheint auch niemand zu wissen, dass die Nachwuchsprobleme dieser Betriebe zu einer ernsthaften Gefahr für unsere Gesellschaft geworden sind.

Eine Schlüsselrolle in der Diskriminierung des Erfahrungswissens spielt die Wissenschaft, so wie sie heute als System verfasst ist. Ihr Markt lässt sich nur durch politische Aufmerksamkeit vergrößern. Poltische Aufmerksamkeit erlangt man am besten durch die Markierung eines dramatischen Handlungsbedarfs. In einer Wissensgesellschaft steigern schwere Krisen oder drohende Weltuntergänge die Ausstattung von Forschungsaufträgen. Es ist nicht im Interesse der Wissenschaft, Konkurrenten im Feld des Wissens anzuerkennen, aller Rhetorik von Transdisziplinarität und Stakeholderkommunikation zum Trotz. Aber ist das etwas Neues? Und welcher Art ist dieses Wissen, das derzeit immer stärker die menschliche Arbeitserfahrung verdrängt?

Neu ist es gewiss nicht. Schon immer war das Verhältnis von Wissenschaft und Macht prekär. Aber je mehr das Expertenwissen zur Absicherung politischen Handelns dient, umso prekärer wird die Frage, wer eigentlich Experte ist. Folglich wird diese Frage in immer aggressiverer Weise ausgetragen. Man muss sich nur einmal die Verachtung, den Hohn und die Arroganz vor Augen führen, mit denen Medienleute und Wissenschaftler derzeit anderen Menschen ihr Mitspracherecht, ihr Urteilsvermögen und eben ihr Wissen in der Debatte über die Coronapolitik absprechen. Die Herabwürdigung des menschlichen Urteilsvermögens zugunsten von Expertenwissen hat eine neue Stufe erreicht.

Zudem hat sich nun aber die Struktur dieses neuen Wissenschaftswissens verändert. Den tätigen Menschen, der verschiedene Informationen integrieren und sie nach bestimmten Regeln mit seinen Kollegen einordnen muss, gibt es ja auch hier, in der Forschung und Lehre. Aber dieser Typus wird zunehmend durch drei neue Produzententypen abgelöst.

Da ist zum einen das Modellieren, in dem alle möglichen Daten durch Rechensysteme aggregieren werden: Walddaten, Gesundheitsdaten, Mobilitätsdaten usw… Es ist sehr schwer, die Arbeit dieser Wissenschaftler nachzuvollziehen und noch schwieriger ist es, die von ihnen genutzten Daten auf ihre Qualität zu prüfen. Die Modelle konterkarieren die menschliche Erfahrung, bis diese geradezu als unwissenschaftlich dasteht. Das bedeutet nicht, dass Modellierungen nicht sinnvoll sein können. Aber wenn sie nicht richtig gewichtet werden, kann ihre Wirkung auf die Geltung anderer Wissensformen verheerend sein.

Auf der anderen Seite haben wir Messwissenschaftler, die durch immer neue elektronische Verfahren Informationen erzeugen können, welche sich – genau wie die Modelle – jeder sinnlichen Plausibilitätsprüfung entziehen. Es sind sozusagen Tiefenbohrungen – extrem genau und punktuell. Mir scheint, die Verknüpfung dieser Informationen mit anderen Wissensbeständen ist oft lückenhaft oder intransparent. Dennoch oder gerade deshalb können diese isolierten Daten durch die Macht der Zahl eine ungeheure Wirkung erzielen, die wiederum das Erfahrungswissen marginalisiert.

Und schließlich haben wir Ideologieproduzenten, die sich gar nicht mehr die Mühe machen, eigene Informationen zu erheben, Daten zu produzieren oder zusammenzutragen und zu verarbeiten, sondern sich gleich darauf beschränken, politische Aussagen zu legitimieren oder zu delegitimieren. Diese Spielart entfaltet sich besonders nahe am Feld der Medien, und hier gedeihen Anmaßung und Arroganz gegenüber dem Erfahrungswissen besonders gut.

Ich meine, das führt in eine scholastische Gesellschaft. Empirie wird suspekt, stattdessen entstehen Lehrmeinungen, die vermittelt über die Politik absurde Praxen konfigurieren. Menschen mit eigenem Erfahrungswissen schütteln darüber besorgt mit dem Kopf. Sie sehen sich einer Expertengesellschaft gegenüber, die weltfremd ist, aber für sich reklamiert, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Das ist undemokratisch, es zerstört die Ausgleichs- und Rückkopplungsformen unserer Gesellschaft.

Ist dagegen ein Kraut gewachsen? Ja, aber es ist ein zartes und kleines Kraut: Man muss selbst damit beginnen, arbeitende Menschen nach ihren Erfahrungen zu fragen und ihre Aussagen als Wissen und nicht nur als Meinungen oder Betroffenheitsäußerungen behandeln, was bedeutet: sie mit anderen Aussagen zu verknüpfen, kommunikativ zu verarbeiten und ihnen dadurch Geltung zu verschaffen. Wissen braucht Geltung durch kollektive Aufmerksamkeit und Verarbeitung.

Insofern können alle eine Verantwortung für unsere Wissensgesellschaft wahrnehmen, indem sie mit den Leuten sprechen. Mit Leuten, die etwas zu sagen haben, weil sie eine glaubwürdige Empirie vorzuweisen haben. Das können und sollten natürlich auch Wissenschaftler sein. Aber auch praktisch arbeitende Menschen haben eben eine Empirie.

In diesem Land leben sehr viele gescheite Leute. Es ist Zeit, ihnen zuzuhören.

12. Oktober 2021