Die Mutter war wunderlich geworden. Sie provozierte, das hatte sie früher nicht gemacht. Und sie brachte alles durcheinander. War das Demenz? Das konnte Tamara nicht einschätzen. Ihr Verhalten war irritierend und fehlerhaft, aber zugleich von beunruhigender Treffsicherheit. Sie wirkte nicht tatterig, sie beherrschte jede Situation, auch wenn sie dabei Unsinn redete. Zumindest schien es so. Vor dieser wirren Überlegenheit fürchtete sich Tamara, wenn sie ehrlich war. Manchmal hatte sie ihre Mutter insgeheim mit Donald Trump verglichen: Unberechenbar und großmäulig war sie geworden. Nun, im Linienbus nach Hause, machte sich das Unbehagen in ihr breit. Nach Hause? Ja, so hätte sie es beinahe genannt. Früher war es vielleicht ihr zuhause gewesen, heute nicht mehr. Aber Weihnachten musste man sich da mal blicken lassen. Half ja nichts.
Eigentlich ging Tamara bei der Mutter alles gegen den Strich. Ihre Ticks. Die fragwürdige Ordnung in ihrem Haus. Dass sie alles aufhob. Dass sie zu allem eine Meinung hatte. Und dann der Name, den die Mutter ihr gegeben hatte: Tamara, das war doch ein Russenname, ganz schlechte Idee, gerade im Moment. Gut, konnte man vor vierzig Jahren nicht wissen, aber trotzdem. Die Mutter sagte außerdem immer Sätze wie: Ich bin mein Lebtag kein schlechter Lehrer gewesen. Oder: Ich bin hier Kunde. Oder: Ich als Bürger. Wie konnte sie nur so reden, noch dazu als Frau? Daran erkannte man ihre Ost-Sozialisation, nichts, was Tamara besonders mochte.
Am Busfenster zogen die Regentropfen in Bahnen die Scheibe entlang. Noch zwei Stationen, dann war sie angekommen. Hoffentlich waren die Geschwister schon da, sie wollte ungern mit der Mutter allein sein. Obwohl, mit den Geschwistern war es beinahe noch schlimmer. Boris fuhr ein dickes Auto, trank Bier und sagte immer nur kurze Sätze. Boris war beschränkt, er hatte keine Ahnung, von nichts. Und wirklich kompliziert war es mit Nina. Die beiden hatten seit vier Jahren keinen Kontakt mehr gehabt. Damals war die Schwester ausgeschert, sie hatte sich geradezu gegen alle und alles gestellt, in einer Zeit, in der man zusammenhalten musste. Seither konnte man mit ihr kein vernünftiges Wort mehr sprechen. Ja, es kam ihr so vor, als sei Nina beinahe eine Rechte geworden.
Was hatte Tamara nur geritten, diesem Familientreffen zuzustimmen? Sie hätte das abwenden müssen. Aber als die Mutter angerufen hatte, um sie einzuladen, da hatte sie keine Kraft gehabt, sich herauszureden. Was heißt einzuladen, man hatte sie herbeordert! Was hätte sie auch erwidern sollen, der Vater war ja im Januar gestorben. Sie hätte eine Erkrankung vorschützen können, das wäre nicht einmal sehr gelogen gewesen, meistens plagte sich Tamara mit Infekten herum. Aber bis gestern Abend war sie von ihrer Moderation noch vollkommen in Anspruch genommen gewesen, sie hatte einfach nicht in Ruhe nachdenken können. Und nun war es zu spät. Von der Bushaltestelle aus noch anzurufen und einen auf Halskratzen zu machen, dafür fehlte ihr die Chuzpe. Hoffentlich hatte Boris seine Kinder nicht dabei, sie wollte nicht auch noch die nette Tante spielen müssen. Es reichte, wenn sie die verständnisvolle Tochter spielen musste.
Bestimmt gab es auch noch Fleisch. Na klar, daran hatte sie gar nicht gedacht. Auch das noch. Es würde wieder Diskussionen über das Essen geben.
Der Weg zum Elternhaus zog sich hin. In was für einer öden Gegend war sie doch aufgewachsen! Die verregneten Vorgärten waren mit Lichterketten überfrachtet, in den Fenstern blinkten die Sterne wie Leuchtreklamen. Schief und unglücklich schwebten riesige aufgeblasene Schnee- und Weihnachtsmänner in den Hecken. Ann-Kathrin würde sie hier nicht mit hernehmen. Das interessierte die auch gar nicht.
Nina war bereits am Morgen bei der Mutter angekommen. Auf dem Weg hatte sie ratlos auf den überbordenden Weihnachtsschmuck in den Vorgärten geblickt. Diese dicken Schneemänner hatte es früher nicht gegeben. Flankiert wurden sie von zarten Leucht-Rehen, die Kombination war bizarr. Nina war ein bisschen schlecht gewesen, und auch sie fürchtete sich vor den kommenden Stunden. Seit einigen Jahren war es nicht mehr so wie früher. Sie war zum schwarzen Schaf geworden. Außerdem fand sie, dass ihre Schwester immer auf einem hohen Ross saß, egal, worum es ging. Sie bewertete, was die anderen aßen und wie sie sprachen, und welche Verkehrsmittel sie nutzten, sie hatte an allen etwas auszusetzen. Ihr Bruder kriegte davon nichts mit, der war immer freundlich, aber indifferent.
Und die Mutter war so seltsam geworden. Seit der Vater gestorben war, schien sie wie entfesselt. Sie versprühte ein unerklärliches Selbstvertrauen, manchmal war sie richtig gemein, dann aber auch wieder lustig. Nina wusste überhaupt nicht, wie das heute ablaufen sollte. Die Vorbereitungen für das Familienessen lenkten sie ein bisschen ab. Sie deckte den Tisch und dachte darüber nach, ob sie den anderen von ihrer neuen Situation erzählen sollte. Sie wusste es nicht. In ihr sträubte sich alles.
Als Tamara vor dem Elternhaus ankam, stand da schon das Auto von Boris. Der war also schon da. Gut so, besser so. Tamara klingelte. Durch die altbackenen Butzenscheiben in der Haustür sah sie, wie sich jemand näherte. Nina öffnete.
Na?
Na?
Schon da?
Seit ein paar Stunden. Wie war die Fahrt?
Smalltalk. Tamara zog Jacke und Schuhe aus, während sich die Schwestern über den Ausfall einer Bahn und das Wetter austauschten. Im Wohnzimmer war der Tisch gedeckt, in der Ecke stand der Weihnachtsbaum. Sie begrüßte den Bruder, der sie robust in den Arm nahm, dann ging sie in die Küche zur Mutter. Es roch nach einem Weihnachtsbraten, auf dem Herd dampften vier Töpfe. Die Mutter war kurz angebunden, sie drückte ihr eine Schachtel mit langen Streichhölzern in die Hand und forderte sie auf, die Kerzen am Baum anzuzünden. Tamara hatte noch nie verstanden, warum man beim Essen den Baum anzünden sollte, aber irgendwie war sie auch froh, eine Aufgabe zu haben.
Der Baum sah aus wie jedes Jahr, nur an einem Zweig hing ein neues silbernes Weihnachtsglöckchen, auf dem geschrieben stand: „Fürchtet euch nicht!“. Das kam Tamara komisch vor, es schien ihr fast, als gälte die Aufforderung ihr und dem bevorstehenden Weihnachtsessen. Sie starrte auf das Silberglöckchen und sah ihre Augen darin, verzerrt wie in einem Horrorfilm. Gerade wollte sie das Glöckchen in die Hand nehmen und schütteln, um herauszufinden, ob es klingelte, da rief die Mutter aus der Küche:
Habt ihr bei euch auch einen Baum?
Nein, wir machen sowas nicht, brummte Tamara.
Wie bitte?
Wir machen sowas nicht!
Was meinst du mit ‚sowas‘?
Na, wir haben keinen Weihnachtsschmuck.
Überhaupt nicht?
Naja, fast nicht. Keinen Baum jedenfalls.
Komisch! rief die Mutter aus der Küche. Tamara sah zu ihrer Schwester, sie suchte Beistand. Die zuckte mit den Schultern und faltete Servietten. Nur nicht provozieren lassen, dachte Tamara. Einfach alle Kerzen anzünden und dann an den Tisch setzen. Sie würde sich einen Kloß und etwas Rosenkohl auf den Teller legen und darin herumstochern, bis das Essen vorbei war. Ganz in Ruhe.
Kommt Essen! rief die Mutter. Wird sonst kalt.
Die vier setzten sich. Die Mutter hatte ihren Sohn zur Rechten, Nina saß ihr gegenüber, Tamara nahm zur Linken Platz, diese Sitzordnung war neu, beim letzten Mal hatte der Vater noch mit am Tisch gesessen. Die Schüsseln und Teller dampften mit Rosenkohl, Rotkraut, Klößen, Soße und einer Ente. Das hatte die Mutter offenbar noch drauf, dachte Tamara, es sah jedenfalls so aus. Und es roch auch so. Die Mutter klatschte in die Hände und sagte: Esst euch nur mal richtig satt, bevor der Krieg losgeht. Dann gibt es nur noch Kohlrüben.
Ich hab noch nie Kohlrüben gegessen, sagte Boris.
Mama, ich will keinen Krieg, sagte Nina, und ich mag keine Kohlrüben.
Das Leben ist kein Ponyhof, sagte die Mutter. Manchmal kommt es hart. Werdet ihr alle noch sehen. Jedenfalls müsst ihr dann alle sowieso Vegetarier werden. Oder das andere, was so ähnlich heißt. Wenn Krieg ist, dann gibt’s nämlich kein Fleisch mehr, nur noch Margarine und Kunsthonig. Also lieber noch mal vernünftig speisen, würde ich sagen. Dann wandte sie sich zu Boris und fragte: Bist du denn jetzt gemustert?
Boris verneinte. Ich bin zu alt, Mama, die haben kein Interesse an mir. Ich kann keinen Beitrag zur Resilienz unserer Demokratie leisten.
Zu was?
Zur Resilienz.
Was ist denn das?
Keine Ahnung. So heißt das heute, wenn man kriegstauglich ist. Dass man aufgerüstet hat. Etwas in der Art.
Tamara wusste, was Resilienz war. Sie hatte gerade ein Seminar geleitet, in dem es um Resilienz ging. Sie war sich nur nicht sicher, ob ihr dieses Wissen jetzt am Esstisch, in Anbetracht eines knusprigen Entenbratens, wirklich nutzen könnte. Was sollte sie jetzt tun? Ihr kam der seltsame Gedanke, dass die Mutter vielleicht recht hatte, mit dem Essen in Ausnahmesituationen. Im Schützengraben musste man nehmen, was aus der Feldküche kam. Denn Heute fühlte sie sich wie in einem weihnachtlichen Schützengraben. Aber sie wischte den Gedanken gleich wieder beiseite.
Die Mutter begann aufzutun, das ließ sie sich nicht nehmen. Sie schnappte sich Boris‘ Teller und fauchte zugleich Nina an: Isst du immer noch kein Fleisch? Das reicht doch jetzt mal langsam. Willst du nicht endlich mal wieder normal werden? Seit Jahren geht das jetzt: Dies nicht und das nicht. Wie bei einem schlecht erzogenen Kind ist das. Ihr seid einmal im Jahr zu Weihnachten hier bei mir am Tisch, da kann man doch einfach mal essen, was auf den Tisch kommt.
Wie gesagt, diese Worte waren an Nina gerichtet. Aber Nina aß, soweit Tamara wusste, eigentlich alles. Die Mutter musste sie verwechselt haben. Bevor jemand antworten konnte, sagte Boris: Also ich hab Hunger!
Die Mutter tat noch etwas Rosenkohl auf, betrachtete kritisch den angerichteten Teller und entschied, die Lademenge noch etwas zu erhöhen. Tamara war auch hungrig, musste sie zugeben. Aber natürlich aß sie kein Fleisch. Doch was würde Nina jetzt sagen, die zu Unrecht Beschuldigte?
Nina hatte kurz nachgedacht und dann entschieden, auf eine Richtigstellung zu verzichten. Sie sagte nur: Na gut, dann ess ich heute mal alles. Weil Weihnachten ist.
Na siehste, sagte die Mutter und begann ihr aufzulegen. Sie sah jetzt zufrieden aus. Einen Moment lang war Ruhe, dann sagte sie: Ach, wir haben den Wein vergessen!
Oh, na klar, Boris sprang auf, ich hole ihn, der steht ja schon nebenan. Im Nu war er mit einer Flasche Rotwein zurück und begann einzuschenken, erst seiner Mutter, dann sich selbst… Tamara überlegte wieder. Ob sie überhaupt Wein trinken wollte, darüber hatte sie noch gar nicht nachgedacht. Eigentlich trank sie gar keinen Alkohol mehr.
Ich bitte nicht, sagte Nina da, und wehrte die Flasche ab.
Was ist denn jetzt noch los, brauste die Mutter auf, jetzt brätst du dir also die nächste Extrawurst, du hast doch sonst immer Wein getrunken. Ich werde noch wahnsinnig, erst kein Fleisch, impfen wolltest du dich auch nicht lassen und nun auch noch Antialkoholiker! Was ist denn nur mit dir, ich hab‘ euch doch ganz normal erzogen, und jetzt wird alles was Freude macht, von dir abgelehnt. War es denn so schlecht in Eurem Elternhaus?
Boris stellte die Flasche ab und sagte ruhig: Nein, es war nicht schlecht, Mutti. Schlecht war es nicht. Nina sagte nichts, Tamara starrte ratlos auf die strahlend weiße Tischdecke. Das war doch bescheuert! Willenlos schob sie ihren Teller in Richtung der Mutter und ließ sie gewähren. Die Mutter platzierte mit großer Selbstverständlichkeit alle Komponenten des Weihnachtsessens darauf.
Vielleicht sollte ich heute eine Ausnahme machen, dachte Tamara. Warum nicht mal ein Festessen mit Fleisch, sie wusste, die Ente war von Frau Breitmeier, es würde ein vergleichsweise glücklicher Vogel gewesen sein. Sie könnte, zumindest der verwirrten Mutter wegen, einfach essen. Nina aß ja auch. Das tat sie zwar immer, aber in den Augen der Mutter machte sie heute eine Ausnahme. Die würde das ja gar nicht merken, wenn sie nun einfach mitaß. Nur Nina würde es merken. Und Boris war es egal. Kurz überlegte sie, ob das Verhalten von Nina, sich als Veganerin auszugeben, die sie gar nicht war, eine Heimtücke gegenüber der Schwester gewesen war. Aber Ihre Gedanken verfingen sich, sie kam zu keinem Ergebnis. Jetzt wäre ihr doch nach einem Glas Wein.
Nina stand wortlos auf und holte sich ein Glas Wasser. Dann gab sie sich einen Ruck und sagte: Ich bin schwanger.
Nein, sagte Tamara.
Doch, sagte Nina.
Oh, sagte Boris.
Wie, schwanger, fragte die Mutter? Einfach so?
Durch Körperkontakt, sagte Nina. Mit einem Mann.
Ich meine, von wem denn? Seit wann?
Ich hätte gern einen Schluck Wein, sagte Tamara jetzt. Da keiner reagierte, nahm sie die Falsche und goss sich selbst ein.
Erzähl ich euch nachher alles, sagte Nina. Wollen wir nicht erst essen?
Ich hab früher auch mal ein Glas Wein getrunken, wenn ich schwanger war, sagte die Mutter. Hat euch nicht geschadet.
Mutter, jetzt lass sie doch, bat Tamara.
Naja, ich sag ja nur. Immer dies nicht, das nicht. Erst isst sie kein Fleisch, dann trinkt sie keinen Alkohol. Was kommt als nächstes, frag ich mich. Was hab ich falsch gemacht?
Mutter, das bin ich, die eigentlich kein Fleisch ist, sagte Tamara da.
Wie, das bist du?
Na du hast Nina ausgeschimpft, dass sie kein Fleisch isst. Aber das stimmt ja gar nicht. Nina isst Fleisch.
Ja, weil ich sie dringlich darum gebeten habe.
Nein, weil sie Fleisch isst. Schon immer.
Na was schimpf ich denn dann mit ihr?
Eben. Das musst du nicht.
Schweigen.
Nach einer Weile sagte Boris: Meine sehr verehrten Damen und Herren, sie erlebten soeben den Fall einer familiären Brandmauer.
Keiner reagierte. Die Mutter blickte auf Tamaras Teller, offenbar dachte sie angestrengt nach. Dann sagte sie: Aber du hast doch alles auf dem Teller, auch Ente!
Ja, Dir zu Liebe, mein Gott! Damit mal Frieden ist!
Liebe, Gott und Frieden, in einem Satz, von meiner Schwester Tamara, sagte Boris da, das gab es auch noch nie!
Tamara nahm ihre ganze Kraft zusammen und sagte sehr laut: Wenn ihr nicht sofort aufhört, ess ich gar nichts mehr!
Ist ja gut, sagte die Mutter. Beruhige Dich doch. Ich meine ja nur. Aber nach einer Weile blickte sie wieder auf und fragte: Warum wirst du eigentlich nicht schwanger? Was ist denn mit deinem Freund?
Mein Freund ist eine Freundin!
Ach, das auch noch, sagte die Mutter, was sind denn das für neue Moden? Das gabs bei uns früher nicht.
Mama, Tamara kann doch zusammenleben, mit wem sie will, schaltete sich Nina nun ein.
Ich versteh euch nicht, sagte die Mutter. Warum lebt ihr nicht einfach normal?
Was ist denn normal, fragten die beiden Töchter nun.
Normal ist, wenn man als Familie zusammen einen Weihnachtsbraten isst.
Amen, sagte Boris. Freuet Euch!
Boris, ist alles in Ordnung mir dir? fragte Nina.
Ich bin ein Engel, antwortete Boris. Wenn ein Heil geschieht, wird es durch mich verkündet. Und eben ist ein Heil geschehen. Er sagte das in vollem Ernst, ohne jede Ironie. Alle starrten ihn an.
Langsam senkte Tamara ihr Besteck auf die knusprige Geflügelbrust. Dann stach sie mit der Gabel ins saftige Fleisch. Die Mutter ließ den Blick über ihre drei Kinder schweifen und schien zu lächeln. Ein seltsames, kaum wahrnehmbares Lächeln. Alle aßen und hingen ihren Gedanken nach. Das Essen schmeckte.
Fürchtet euch nicht, dachte Nina. Fürchtet euch nicht, dachte Tamara. Halleluja, dachte Boris.
Nur was die Mutter dachte, das wissen wir nicht.
