Drei Tage regnete es durch, mit einer ungewohnten Heftigkeit. Das war misslich, denn die Feuerwehr meines Dorfes hatte sich ein Jahr lang auf ihr 100-jähriges Geburtstagsfest vorbereitet, das an diesem Wochenende stattfinden sollte.
Man muss dazu sagen, dass „mein Dorf“ eine ungenaue Bezeichnung ist. Ich wohne auf dem freien Feld, mein Haus gehört zu einer kleinen Vorwerkssiedlung. In einem anderen Dorf liegt meine Arbeitsstelle, im nächsten meine Kirche, in einem dritten tagt der für meinen Ort verantwortliche Gemeinderat, das Hauptdorf dieser Gemeinde ist aber ein viertes. Ich habe also mehrere Dörfer, zu denen ich mich zugehörig fühle. Und mal angenommen, mein Haus oder meine Scheune würden brennen, dann könnte ich von den freiwilligen Feuerwehren all dieser Dörfer auch Hilfe erwarten.
Aber zurück zu diesem Feuerwehrfest. Vor beinahe jeder Tür saßen Strohpuppen, die ganze Straße war mit Wimpeln geschmückt. Am Freitagabend sollte getanzt werden. Am Sonnabend waren ein Umzug und die Aufführung unseres Theaterstücks über die freiwilligen Feuerwehren geplant. (Dieses Stück hatte ich vor elf Jahren auf der Basis von Befragungen unter Feuerwehrleuten geschrieben, es ist seither etwa vierzigmal gespielt worden.) Später war eine Technikschau geplant, und abends natürlich nochmal Tanz. Am Sonntag hatte man einen Gottesdienst vorgesehen, anschließend Frühschoppen und weiteres Programm.
Am Freitag stand ich auf dem Bierwagen und zapfte, was das Zeug hielt. Dazu muss man erklären, dass die Feuerwehr im Vorjahr für unsere Kirchgemeinde, als die das Jubiläum ihres Kirchbaus feierte, das Kaffeetrinken ausgerichtet hatte. Das war freundlich gewesen, denn wir sind nicht mehr so viele, sodass wir am Ende die ganze Zeit selbst in der Küche gestanden hätten, um unsere Gäste zu bewirten. Sie hatten also Kaffee gekocht und Kuchen serviert, das Geschirr abgewaschen und gute Laune verbreitet. Und also hatten wir nun am Freitagabend für sie den Ausschank auf dem Bierwagen übernommen.
So ein Platz auf dem Bierwagen ist großartig. Man steht exponiert, sieht alles und alle, und die Leute haben sehr schlichte Anliegen, die man leicht erfüllen kann. Wir standen zu fünft da oben, zapften Bier, mixten Bowle und Cola-Rum. Fünf Leute auf einem Bierwagen, das sind eigentlich zu viele, aber wir wollten alle mitmachen und waren sehr fröhlich. Draußen regnete es. Aus dem Nachbardorf war eine Tanzgruppe gekommen. Die Mädchen machten das ziemlich gut, obwohl sie im Nu durchnässt waren. Es gab mehrere Gruppen, die sich wechselweise umzogen und immer noch eine neue Choreografie aufführten. Anschließend schoben sich die Feuerwehrleute und ihre Freunde selbst auf die Tanzfläche, ebenfalls nass (schon vom vorherigen Zuschauen), sie tanzten bis in die Nacht. Das Theaterstück am nächsten Tag fand in einem Zelt statt, es prasselte so laut aufs Dach, dass der Schauspieler brüllen musste. Und bei der Technikschau versanken die Maschinen im tiefen Schlamm.
Am Sonnabend stand ich beim Umzug und dachte: So viel Wasser über so lange Zeit hast du noch nicht erlebt. Die Menschen ließen sich aber nicht beirren. Pudelnass standen sie auf den Umzugswagen, tanzen und lachten, als sei überhaupt nichts.
Jeder, der schon mal ein großes Fest organisiert hat, weiß, wie es in einem selbst in solchen Stunden aussieht. Man macht sich Sorgen um mögliche Schäden durch Nässe, etwa bei der Elektrik, um die bloße Durchführbarkeit des Veranstaltungsplans und natürlich um die Finanzen, denn die erhofften Besucherzahlen verfehlt man ja nun doch. Man muss mit sehr vielen Leuten reden, die umdisponieren müssen, und mit ihnen auf viele plötzliche Umstände reagieren. Die Beine sind müde vom vielen Hin- und Herlaufen. Manchmal ist man erschöpft und durchgeweicht und wünscht sich ins Bett. Aber die Verantwortlichen zogen das alles mit einer gelassenen Haltung durch. Ich habe es bewundert.
Am Sonntag um 18.30 Uhr war der Spuk vorbei. Mit den letzten Programmpunkten und nach einem unfassbaren Wolkenbruch, infolgedessen die Wiesen knöchelhoch unter Wasser standen, klarte der Himmel auf und tauchte den Abend in strahlenden, warmen Sonnenschein. Aber niemand jammerte.
Mir kommt es so vor, als habe es in den letzten Jahren einen Stimmungswandel in unseren Dörfern gegeben. Anhand der Wahlergebnisse wird von den ostdeutschen Dörfern immer als Hort finsterer Wutbürger gesprochen, aber ich kann das nicht bestätigen. Die Leute sind gut drauf. Nach fünfunddreißig Jahren der Ausdünnung ländlicher Infrastruktur ist fast nichts mehr da, was noch geschlossen und aufgegeben werden könnte. Die Kneipen, die Geschäfte, die Sparkassenfilialen, die Kindergärten und die Schulen in den Dörfern sind fast alle Vergangenheit. Was nun noch los ist, verdankt sich der eigenen Kraft, das sind die Dorfvereine, Sportclubs, Chöre oder Blasorchester, die kleinen Bürgerhäuser, in denen man sich treffen kann, hier und da eine kleine Heimatstube und natürlich die Feste. So langsam fängt man an, es zu genießen.
Ich habe die Dorffeste über lange Zeit nicht ernst genommen. Sie waren mir zu laut, ich konnte weder mit der Musik noch mit den Tänzen viel anfangen. Aber heute weiß ich: Die Feste sind wichtig, und sie sind besser, als es den Anschein hat. Sie werden von den Menschen selbst vorbereitet, sie sind Zeiten der Begegnung. Nachdem die Dörfer die Einrichtungen verloren haben, mit denen sie sich von einem suburbanen Wohngebiet unterscheiden können, haben sie nun einmal höchste Priorität. Und ihre Qualität ist ein empfindliches Ding: Nicht jedes Dorffest ist wie das andere, manche sind feiner, manche gröber. Viele Faktoren tragen zum Erlebnis bei, und es gibt nun einmal nicht viele gute DJs. Die Tradition der alten Volkstänze ist abgerissen, das ist traurig, aber es würde nicht funktionieren, sie einfach wieder aufnehmen zu wollen. Ich beherrsche selbst keinen einzigen alten Tanz und ich spiele kein Instrument so gut, dass es ein Dorffest bereichern würde.
Da staune ich dann, dass im Nachbardorf die Tanzfläche auch am Nachmittag schon voll ist, sobald die Kinder ihr Programm aufgeführt haben. Und dass die Leute in großer Zahl einen ziemlich coolen und geübten Disco-Fox hinlegen. Wer war ich eigentlich, dass ich früher der Meinung war, diese Feste gingen mich nichts an? Das kommt mir heute geradezu arrogant vor. Man kann sich ja beteiligen und vorschlagen, die Buden etwas besser zu stellen oder die Musik nicht immer laufen zu lassen, sie etwas bewusster einzusetzen. Diese Mitsprache steht jedoch nur jenen zu, die auch Arbeit hineinstecken.
Aber ich wollte ja von dem Stimmungswandel in den Dörfern erzählen. Es mag sich dabei auch um eine Täuschung handeln, ja, der Eindruck kann damit zu tun haben, dass ich selbst einfach freundlicher behandelt werde, nun, da ich seit fast 30 Jahren in dieser Gegend lebe. Vertrauen wird einem hier nicht über Nacht gewährt, und das hat seine Gründe. Ob der da „einer von uns“ ist, das ist für die Menschen relevant, denn man kann als Landbewohner nicht damit rechnen, dass die eigenen Belange und Interessen von denen, die einen akademischen Anstrich haben, auch geachtet und vertreten werden. Das ist aber wichtig, denn das Land steht nicht still, es wird ja ununterbrochen an ihm herumgezerrt. Jedes Jahr werden neue umwelt- oder energiepolitische Säue durchs Dorf getrieben, werden Infrastrukturen abgebaut oder durch Kommunalreformen ausgedünnt. Man muss auf der Hut sein, gerade bei solchen, die eloquent auftreten. Die meisten Menschen hier sind nicht eloquent. Und sie haben auch keinen Grund dazu.
Es gibt da überhaupt eine gewisse Verabredung zur Einsilbigkeit, zumindest bei bestimmten Themen. Die große Politik, die Kriege und Krisen spielen in den Gesprächen kaum eine Rolle. Interessieren sich die Menschen nicht dafür? Das glaube ich aber doch. Alle wissen Bescheid, alle sind informiert, und alle haben ihre Sorgen. Aber die Leute wissen, dass ihre Perspektive in der großen Gesellschaft nicht von Belang ist. Dass es keinen Sinn hat, in den herrschenden Diskursen seine Gedanken und Überlegungen in eigenen Worten geltend zu machen. Dass man nur verlieren kann, wenn man sich auf verbale Auseinandersetzungen einlässt. Aber das ist keine Abkehr von der gesellschaftlichen Mitte, vom Engagement füreinander, kein Rückzug ins Private. Nein, der Markplatz wird in aller Ruhe wieder bevölkert.
In einem meiner Dörfer gibt es einen Traditionsverein. Er hatte sechzig Mitglieder, nun sind es 120, weil sich eine Tanzgruppe angeschlossen hat, die unter dem eindrücklichen Namen „fröhlich und unbeschwert“ regelmäßig in mehreren Altersgruppen trainiert. Gemeinsam fuhren wir zur Grünen Woche nach Berlin, um den Staffelstab für ein großes Landesfest abzuholen, das bei uns ausgetragen wird, es war wie eine fröhliche Klassenfahrt, und auch die Handwerker und all jene, die eigentlich viel zu tun haben, nahmen sich einen Tag frei dafür. Als wir spät abends aus dem Bus stiegen, waren wir in der Tat alle fröhlich und unbeschwert.
Gestern Abend gab es eine Kinovorstellung auf dem Dorfanger. Es werden auch Wanderungen in die nächste Umgebung organisiert, die wirklich schön ist, es gibt gemeinsame Handarbeitszirkel und, und, und. Es ist viel los hier, man macht aber nicht viel Worte davon.
Unsere jährlichen Landkreisempfänge werden im zeremoniellen Teil immer kürzer. In diesem Jahr dauerte dieser Teil gerade mal eine knappe Stunde. Es wurden drei Menschen ausgezeichnet, der Kreistagsvorsitzende erläuterte, dass jeder mit jedem reden solle, weil dies die Voraussetzung einer Demokratie sei, und man sei ja wohl erwachsen genug, eine Meinungsverschiedenheit auszuhalten. Der Landrat beschrieb den provinziellen Eigensinn unseres Gemeinwesens inmitten der trüben Gesamtwetterlage als Herausforderung für jeden Einzelnen, sich nicht alles vorschreiben, sondern nach eigenem Ermessen Verantwortung für sich und die anderen zu übernehmen. Das war nicht flüchtig, es war klar und klug. Und danach gingen wir ans Buffet.
Seit einem Jahr habe ich keine Probleme mehr, Beiträge für unsere selbst herausgegebene Gemeindezeitung zu bekommen, es sind genug Leute, die etwas schreiben wollen, und die anderen spenden das Geld, das wir zum Druck brauchen. Zehn Jahre lang war das eine Quälerei, manchmal schrieben zwei Leute die ganze Zeitung, weil sonst niemand etwas beitrug. Inzwischen sind es in der Regel zehn Autoren, sie schreiben über die Friedhöfe, die nächsten Kommunalwahlen, Bauvorhaben von allgemeinem Interesse und berichten von Arbeitseinsätzen in den Dörfern.
Die Menschen hier gehen zueinander in Beziehung. Aus einer egalitären Haltung heraus bauen sie Vertrauen auf und nehmen sich gemeinsam etwas vor. Die Kneipen sind zu, also schaffen sie Ersatz, in ihren eigenen Höfen oder in den letzten Gemeinschaftshäusern. Auch neue Leute sind willkommen, sofern sie nicht belehren oder missionieren. Es geht um den gemeinsamen Selbsterhalt, nicht um Versorgung von außen oder oben.
Also, ich finde das gut. Es gibt mir mehr Halt als vieles andere.