Wir sind am Ende. Dachte ich, als wir heute bei Freunden waren, unter der rauschenden Tanne saßen, grillen, Bier, erzählen. Der Wind weht, der Himmel ist blau, und so weiter.
Ich kann aber auch ganz anders anfangen. Kennen Sie noch den ollen Evergreen: Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre? Nun muss ich das etwas abwandeln und sagen: Ich weiß nicht, wohin ich gehöre.
Aufgewachsen bin ich in einem Dorf am Rande eines Mittelgebirges. Wir hatten einen ziemlich großen Hof nebst Garten. Es gab allerlei Kleinvieh, Hühner, Hasen, in meiner ganz frühen Erinnerungen tummeln sich sogar zwei Schafe. Später kommt noch ein zugelaufener Hund, ein umtriebiger Foxterrier, dazu, den ich heiß und innig liebte und der auch keinen Radau machte, nur ein Huhn, ein einziges, das wird ihn in denkbar schlechter Erinnerung behalten. Klettern, toben, draußen rumstromern, so wurde ich glücklich groß.
Später zog unsere Familie in eine Kleinstadt, deren größter Vorzug in der Nähe zur Ostsee lag. Außerdem waren wir so weit von den Epizentren gesellschaftlicher Relevanz entfernt, man war nicht immer up to date, einer der schönsten Vorzüge dieser Zeit.
Nach Erreichen der sittlichen Reife stürzte ich mich euphorisch in die Großstadt. Erlebte und genoss Bekanntschaften, Freundschaften, Liebschaften. Vieles ist eine Weile her, vieles hat sich verändert, bei mir und bei meiner Stadt.
Wenn ich den Weg vom Dorf in die Metropole sehe, war das ein steiler Aufstieg. Mittlerweile ist mein steiler Aufstieg aber umkehrbar geworden. Sagt man das als Gegenteil von Unumkehrbar? Egal. Ich befinde mich jetzt jedenfalls wieder auf dem Rückzug.
Klar gemacht wurde mir das durch meinen Nachbarn. Der hatte, auf meine dahingeworfene Bemerkung, dass ich noch schnell „in die Stadt“ müsse bemerkt, dass ich jetzt definitiv zu ihnen gehöre, dazu gehöre. Wozu fragte ich mich? Vielleicht zur Stadtrandgesellschaft?
Ich muss mich erklären: Ich lebe natürlich weiterhin in derselben, früher euphorisierenden Großstadt. Aber, seit unserem Umzug, der uns relativ zwangsweise aus der Innenstadt an den kleinstädtisch geprägten Stadtrand beförderte, hat sich die Perspektive tatsächlich verändert. Man schaut von außen nun einmal anders nach innen, als andersherum. Aus meiner Erfahrung destilliert, leben wir heute in einer Kleinstadt mit immer noch dörflichen Zügen. Immerhin war der Ortsteil, in dem ich jetzt lebe, seit seiner Entstehung viele hundert Jahre lang ein klassisch märkisches Dorf.
Wie lebt es sich so, zwischen Baum und Borke? Wie ist das, nicht Fisch noch Fleisch zu sein? Es gibt ja so manche Redensart, die das Schwebende, Flirrende, Uneindeutige von Umständen, Situationen, Verhalten beschreibt. Und ein wenig geht es mir so mit meiner neuen Heimat, deren derzeitige Identität sich vielleicht am besten durch ihren zwittrigen Charakter beschreiben lässt. Wir wohnen am Rande der Großstadt, und diese jetzige Randlage war früher einmal ein ganz hübsches, eigenständiges Dorf, mit allem, was dazu gehört, Kirche, Schmiede, Schulhaus. Bis heute prägt das Dorfbild ein mittelalterlicher Kirchenbau. Es gibt auch noch immer eine Handvoll alte, backsteinerne Bauerngehöfte, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Straßennamen berichten von Bürgermeistern und Handwerkern, die diese Zeit lokalen Handelns, eingebunden zwischen märkischen Kleinstädten, prägten. Schlesische Ortsnamen kommen in den 1920er Jahren hinzu und prägen damit schon nicht mehr lokale, vielmehr nationale Traditionen. Fast am liebsten sind mir bis heute aber Namen wie „Schräger Weg“, der halt schräg zu den senkrechten Straßenplanungen läuft, oder die Straßen 48 oder 52, oder sonstwelche numerische Kürzel, die zwar leb- und traditionslos, aber irgendwie auch unanfechtbar sind, und das will heute ja etwas heißen.
Diese Straßennamen katapultieren uns zugleich weit aus mittelalterlichen Traditionen mitten ins große 19. Jahrhundert. An dessen Ende kam zu uns der Bahnanschluss und die ausufernde Nachbarstadt machte aus dem beschaulichen Flecken zunächst einen Teil vom Speckgürtel, der mittlerweile eingewuchert ist in die Randlage der Großstadt und zunehmend droht, gesichtslos hineingezogen zu werden, in die von der Innenstadt aufgenötigten Bedürfnisse an Wohnraum. Mit der Eingemeindung wurden physische, landschaftlich klar strukturierte Grenzen aufgelöst, ebenso wie die Formen des traditionellen Zusammenlebens und der inneren Ordnung in und um das alte Dorf. Das großstädtische Zentrum, das auch unser Dorf geschluckt hat, ist also nicht einfach so Zentrum, sondern nur, weil es kraft seiner menschlichen Masse bestimmt, was mit den ganzen Peripherien im Rest des Landes so passiert. Und wenn man sich heute, mehr als einhundert Jahre nach der Eingemeindung, von hier aus auf den Weg ins Innerste der Stadt macht, spürt man überall die Verwerfungen und Risse und Artefakte dieser Mischkultur zwischen der Zugehörigkeit zur Großstadt und der ursprünglich dörflich, heute tendenziell kleinstädtischen Lebensstruktur.
Das vorletzte Jahrhundert teilte mit seiner neuen Nähe zur Großstadt einen großen Teil des traditionell bäuerlichen Ackerbodens des Dorfes in kleine Parzellen auf. Geplant waren hier traditionelle Einfamilienhäuser für einfache Leute, bezahlbar, wenn man lange genug arbeitete und sparsam war. Man muss die Straßen und Wege einmal ablaufen, um zu verstehen, wie es sich hier lebt. Die Grundstücke sind bis heute sauber abgezirkelt, wie es in den Verkaufsprospekten mal angeboten wurde. Häufig sind sie über die Zeit aber auch etwas unwirsch gewachsen und mittlerweile mit mehr oder weniger Eigenarten versehen, so dass am Ende doch immer wieder mehr Eigensinn hindurchscheint. Außerdem sind aus den oft läuferartig langen und schmalen Grundstücken, die ein Haus und etwas beackerbares Land enthielten, heute zwei Grundstücke mit zwei Häusern, dafür mit nur einer handtuchgroßen Wiesenfläche geworden.
Geht man weiter, sieht man das in der Varianz der Bedachungen: Spitzdächer, Flachdächer, Walmdächer, Giebeldächer, Satteldächer, 90er-Jahre-Dächer, allesamt auf Häusern der letzten hundert Jahre. Darauf und drunter finden sich zunehmend PV-Anlagen und Wärmepumpen. Wärmepumpen. Wärmepumpen. Vieles davon ist nicht besonders schön, und mir soll niemand erzählen, das wäre, aufs Ganze gesehen, ökologisch wertvoll und wirtschaftlich sinnvoll. Betrachtet man die Architektur unter diesen Dächern aus ästhetischer Perspektive, dann lässt sich zumeist konstatieren, dass die Proportionen und bauliche Ausgestaltung umso freundlicher und menschlicher wirken, je älter die Häuser sind.
Auf den Gehöften wiederum stehen Schuppen, Gartenhäuser, Gewächshäuser, Carports. Umrahmt wird das von privaten Grenzmarkierungen jeder Couleur, Staketenzäunen und Feldsteinmauern, meistens freilich handelt es sich um Metallzäune, Maschendraht oder die Thujahecken, diese grünen Würger. Am Rande des alten Dorfes, wenn es auf Ackerflächen oder an die Bahngleise geht, wächst zumeist zeitgeistgemäßer Schmetterlingsflieder, Rhododendron, Buchsbaum, auch mal eine verirrte Weide oder Pappel.
Aber, und das macht auch die krudesten Mischungen wieder wett, es ist noch immer alles luftig und ein weiter märkischer Himmel zieht sich über die Ein- und Zweigeschosser. Dazu das alles umspannende Grün, das sich an allen Ecken und Enden auch in wildester Form von Brennnessel und Brombeere zeigt. Kommt man an die alte Dorfgrenze, biegt man gänzlich ins Grüne. Markiert wird das auch durch die Wegestruktur. Die Hauptstraße, die ins Herz der Großstadt führt, ist natürlich breit und geteert. Aber je weiter man an den Gemeinderand kommt, werden die Straßen schmaler, statt Teer gibt‘s Kopfsteinpflaster und die letzten Ausläufer versanden schließlich in staubigen Pisten. Hier säumen Bataillone wilder Knoblauchrauken den Weg, während die Luft flirrt vom schweren Duft der Straßenlinden. Und man stößt hier auf das kleine Bächlein, dessen Wasser, ich kürze das hier etwas ab, schließlich in der Nordsee landen wird. Wenn ich heute durch die Felder und Waldfetzen Richtung Innenstadt schlendere, hat das noch immer einen herrlich kräftigen Schuss von ungehegter Natur. Aber der Druck der Innenstadt gegen diese zarten Ränder nimmt zu. Geplant ist innerhalb weniger Jahre der Neubau mehrerer tausend Wohnungen auf den noch vorhandenen Feldern.
Wie wird es sich hier also in zehn, zwanzig Jahren leben lassen? Kürzlich las ich in einer Broschüre, man müsse „das Potenzial des Einfamilienhauses neu […] denken.“ Es geht um „zukunftsfähiges Wohnen“ und, immer gerne gefordert, Mut zur „Transformation“. Ehrlich gesagt, mit meinen Nachbarn und mir ist dabei kein Staat zu machen. Jedenfalls keiner, wie man ihn sich in den Architekturbüros der Innenstädte und der städtischen Verwaltung wünscht. Man hat hier genug mit dem Alltag zu tun, den Heizkosten, den Baukosten, den fehlenden Ärzten. Mit Verdichtung, Rückdrängung des Privatverkehrs bei gleichzeitig steigender Dysfunktionalität des ÖPNV. Was die Transformation anbelangt, wünschen sich hier viele eher einen Zeitsprung in, na sagen wir mal, die Zeit von Kohl bis Schröder.
Was wir, wie viele andere Randgebiete, schon verloren haben: einen echten Bäcker, einen echten Fleischer, kleine Läden reihenweise. Was es immerhin gibt: sechs Physiotherapien allein in unserer Straße, einen kleinen Buchladen, ein furchtbar nettes Café, zwei Obst- und Gemüseläden und Thus Blumenladen. Und natürlich grillen, Bier, erzählen, ganz am allerletzten Ende der Dorfstraße. Man kennt sich, und man versucht, das Beste draus zu machen. Es sind nicht mehr viele, die hier jung gewesen und alt geworden sind. Die Neuzugänge, wie ich, sind viele, aber die Lebenswelt des Kleinen prägt noch stark. Überhaupt lohnt sich der quantitative Vergleich mit der Innenstadt nicht, aber wir haben noch eine leidlich gute Hühnerquote, mein Indikator für selbstbestimmtes Leben. Wenn ich morgens unser Schlafzimmerfenster öffne, höre ich die Hähne der zwei kleinen benachbarten Hühnerscharen krähen. Immerhin.
Neulich plauderten wir auf dem Balkon unseres Nachbarn. Eine stille Dämmerung war hereingebrochen, wir sprachen über dies und das, unter uns gingen zwei junge Leute die ruhige Straße entlang. Unser Nachbar, ganz im Erzählen, schaute kurz hinunter und sagte so nebenher, „Immer was los hier“. Tja, recht hat er.