Meine Großmütter waren jederzeit Staatsangehörige des gleichen Landes, freilich eines Landes mit mehrfach wechselndem Namen und Zuschnitt. Aber immer verlief zwischen ihnen eine unüberwindbare Grenze. In meiner Gegenwart jedenfalls haben meine Großmütter nie miteinander gesprochen. Wozu auch.
Die eine Großmutter lebte an einer von Robinien gesäumten Straße. Die sandigen Bürgersteige wurden geharkt. Vom Küchenfenster sah man nach Westen, das Elbtal hinab, an dessen Nordseite sich Weinberge hinzogen. Es gab überwältigend viele Bücher. Alles von Thomas Mann, die Gesamtausgabe von Brecht und vieles von Feuchtwanger. Bücher, für die man schon alt genug war. Und andere. Wie zum Beispiel den Fotoband »Dresden, eine Kamera klagt an«. Ich war in der Regel im Sommer dort und las.
Als Kind, erzählte uns meine Großmutter, lief sie mit dem Bierseidel zum Gasthaus Weintraube, damit, wenn ihr Vater – ein Chauffeur – zum Mittag heim kam, Frischgezapftes auf dem Tisch stand. Sie war Enkelin kleiner Leute – Häusler, Heimarbeiter, Steinbrecher – die aus Lausitzer Dörfern in die aufstrebende Residenz gekommen waren. Was sie als Enkelin nicht verstehen sollte, wurde auf Sorbisch geflüstert. Sie selbst achtete peinlich darauf, dass wir uns in Kindergarten und Schule keinen Dialekt einfingen.
Meine Großmutter hatte ein Zeugnis der zehnten Klasse. Bis zum Abitur reichte das Geld nach dem Krieg nicht. Sie hatte ein Fachschulstudium zur Chemielaborantin absolviert, hat zwei Kinder, einen promovierten Gatten und einen Führerschein. Auch mit neunzig Jahren fährt sie souverän. Früher hat sie sehr aufwendig gekocht und Dinge ausprobiert, die sie auf Reisen kennengelernt hat. Das hat jedoch seine Grenzen. Muscheln und Krebse ekeln sie. Bevor sie die Vorzüge von Tiefkühlkuchen entdeckte – weniger Arbeit, mehr Zeit für Hobbies – schätzten wir ihre Eierschecke. Zubereitet, wie es in dem kleinen, in Leinen gebundenen Notizbuch ihrer Mutter aufgeschrieben ist. Die feine Schichtung aus Hefeteig (unten), Quark mit Rosinen (Mitte) und luftiger Schecke (oben) setzte meine Großmutter uns als kreisrunde Torte vor. Sonntags, zum Kaffee.
Die andere Großmutter lebte an einer unbefestigten Straße, links und rechts davon Linden. Vom Küchenfenster sah man nach Westen durch den Hühnerhof und die Obstbäume zum Wald, hinter dem die Schweinemast lag. Gelesen wurde die Lokalzeitung. Wortlos. Kopfschüttelnd. Im Haus gab es nur zwei Bücher. Eines war ein fein illustriertes Fahrschullehrbuch aus den 1950er Jahren, in dem man lernen konnte, dass an Kreuzungen Motorkraft – also Autos – gegenüber Muskelkraft – also Pferde und Radfahrer – Vorfahrt hätten. Das andere war ein Geografiebuch aus den 1960er Jahren, in dem man sah, wie sich eine trostlos blaue Welt, in eine heitere rote verwandelte. Ich war in der Regel in den Winterferien dort. Weil es nichts zu lesen gab, war ich den ganzen Tag draußen unterwegs. In Scheunen. Auf den Feldern. Im Wald. Die Großeltern haben uns erklärt, was Fundmunition ist und dass man damit nicht spielt.
Meine Großmutter hatte ein Zeugnis der achten Klasse und zwei Facharbeiterbriefe – Schweinezucht und Rinderzucht. Sie hatte dazu fünf Kinder. Meine Großmutter wusste, was zu tun ist, wenn ein Schwein oder ein Huhn geschlachtet wurde. Sie erzählte uns, dass sie als Kind mittags in der Suppe die Krebse und Muscheln aß, die ihre Brüder und sie vormittags an der Oder gesammelt hätten. Das galt selbst ihrem Mann als Beleg dafür, dass seine Frau aus einer Familie besonders armer Schlucker stammte. Oderschiffer in guten Zeiten, Hilfsarbeiter in den Papierfabriken und Kohlegruben des Wendischen Winkels, wenn es weniger rosig war. Nach dem Krieg Habenichtse. Menschen, deren Deutsch dort, wo sie im Nachkrieg strandeten, fremd war. So ganz ohne Umlaute. Dafür mit einem verqueren Satzbau, der statt der Verben das Objekt ans Ende stellt. Diese Sprache hat einen märchenhaften Namen – Ponaschemu – und ich habe es versäumt, sie aufzunehmen. Ihr Tag begann vor dem Frühstück damit, die eigenen Rinder, Schweine, Hühner zu füttern. Dann LPG. Dann der eigene kleine Acker, dann Garten, dann wieder Rinder, Schweine, Hühner füttern. Ich sehe sie noch in Holzpantinen und Kittelschürze am Abend das Hoftor schließen. Das war ihr Ritual. »Hofftorszu« war ihr Wort für »Feierabend«.
Meine Großmutter kochte und buk – und zwar viel. Frikassee, in dem man hätte baden können. Berge von paniertem Kotelett. Gewaltige rechteckige Blechkuchen. Die standen im Keller auf einem Gestell, in das die Bleche eingehängt werden konnten. Es gab Kirschstreusel. Butterstreusel. Und Pilichenkuchen – Eine dünne Schicht Hefeteig, darüber verquirlt dicke Sahne, Ei und eine Paar Rosinen.
Die Grenze, die zwischen meinen Großmüttern verläuft ist die Eierscheckengrenze. Die ist nicht so bekannt, wie der Weißwurstäquator, der in Bayern Kultur und Barbarei scheidet, erfüllt aber den gleichen Zweck. Eierschecke wird als Ausweis einer verfeinerten Lebensart hochgehalten und ist verfügbar: als Familienüberlieferung, als Rezept im Netz mit skalierbaren Mengenangaben oder fix und fertig beim Bäcker. Wir müssen uns keine Sorgen machen, dass das Wissen um die Eierschecke verloren gehen könnte. Anders sieht es beim Pielichenkuchen aus. Meine Großmutter hat zu ihren Lebzeiten kein Rezept aufgeschrieben und ich finde auch keines. »Es wurden keine mit Ihrer Suchanfrage – Pielichenkuchen – übereinstimmenden Dokumente gefunden. Vorschläge: Achten Sie darauf, dass alle Wörter richtig geschrieben sind. Probieren Sie es mit anderen Suchbegriffen. Probieren Sie es mit allgemeineren Suchbegriffen.« Pilichenkuchen. Bilichenkuchen. Piliche. Pilichen. Fehlanzeige bei Google. Fehlanzeige bei chefkoch.de. Fehlanzeige im niedersorbisch-deutschen Wörterbuch. Wie man diesen Kuchen schreibt, wie man ihn bäckt? – ich weiß es nicht und ich kann niemanden fragen.