Es gibt diese Sonntage, von denen man meint, sie könnten die letzten sein. Der Sommer strahlt schon etwas matter und zwei Tage Regen würden ihm das Genick brechen. Aber heute wird die Morgenkühle noch einmal weichen und das erste Licht scheint durch die Kiefern und auf die Firste der Dörfer, die noch still sind, als wir mit dem Rad über die kleinen Wege durch die Wälder zum See fahren.
Wenige Wochen zuvor hatte ich in Kreuzberg Modellbaumaterial besorgt und war auf dem Weg zu Kasse an den Büchertischen hängengeblieben. An schön gemachten Büchern komm ich nicht vorbei. Neben aufwändig fotografierten Bildbänden von Sommerhäusern im Umland von New York, Oslo, London oder Riga fand sich auch ein blaues Buch mit dem Titel Take Me to the Lakes – Berlin Edition … verbindet Fotografie und Design mit … dem Wunsch nach Entspannung und dem Versprechen, die Großstadt hinter sich zu lassen. In diesem Sommer gilt es, zu entdecken, was jenseits der Stadtgrenzen liegt. Unsere Bücher sind der Wegweiser. A slow travel guide for design lovers. Ich blätterte mich nervös durch die Seiten, überflog die 140 empfohlenen Badestellen an fünfzig Seen. Und war erleichtert. Den See, an dem mein Großvater ein Zelt hatte, wo meine Eltern sich verabredeten, als sie noch nicht meine Eltern waren, wo man später versuchte, mir das Schwimmen beizubringen, hatten sie nicht zum Geheimtip gemacht. Er war weiter unentdeckt.
Ich kenne keinen schöneren See. Keinen, der so klar und, selbst im Hochsommer, so kalt ist. Nirgends in der Gegend ist der Naturschutz restriktiver. Hier gibt es kleine, versteckte Badestellen. Rotfedern und Rohrdommeln. Stege im Schilf. Wie jener Steg, der mir der liebste ist. Einmal haben wir auf ihm Angler getroffen, die behaupteten, sie hätten den Steg gebaut – was kein Rausschmiss war, sondern eine Einladung, hier zu schwimmen. Und sich um den Steg zu kümmern. Tatsächlich hat mich im Lauf der Jahre überrascht, wie schnell sich Bretter lösen, Bohlen morsch werden. Mehr als einmal war ich mit dem Zollstock auf dem Steg und hab mir notiert, was nötig wäre, um ihn zu auszubessern. Und jedes Mal fand ich ihn beim nächsten Besuch repariert. Nicht geflickt. Repariert. Mich rührt diese Sorgfalt mit den Dingen und das stille Abkommen, sich zu kümmern und über diesen Ort und seinen Zauber kein Wort zu verlieren.
Am Sonntagmorgen lag der See wie verlassen da. Aber am Steg standen zwei Fahrräder. Angeschlossen. Eines mit dem Aufkleber »Kein Mensch ist illegal«. Eines mit dem Aufkleber eines Kreuzberger Fahrradladens, bei dem ich gelegentlich mein Rad überholen lasse. Und auf dem Steg stand ein Zelt. Gerade so, dass man zwar ins Wasser springen, aber eben nicht heraussteigen konnte, ohne über die Zeltkuppel zu turnen. Der Steg war besetzt. Okkupiert. Wir standen ratlos da. Im Zelt raschelt es und jemand fluchte leise. Wir unterhielten uns laut. Darüber, wie ungeschickt das Zelt stünde. Im Zelt blieb es jetzt still. Ein Angler kam dazu und pflichtet uns bei. Der Steg gehöre allen. Den sollte niemand allein für sich beanspruchen. Im Zelt blieb es still. Ich versuchte, halb über, halb um das Zelt den Einstieg zu erreichen. Im Zelt blieb es still. Ich sprang ins Wasser.
Während ich schwamm, wurde mir klar, in welchem Dilemma ich mich befand. Es war rücksichtlos den Steg zu blockieren. Es war idiotisch, sich im Zelt tot zu stellen. Aber es war sehr effektiv. Wir würden uns bald verdrücken und sie hätten den Steg für sich. Exklusiv. Sie würden einen schönen Tag haben. Bilder machen. Ihren Freunden erzählen von der unberührten Natur, die sie entdeckt hätten. Sie würden es posten. Und dann würde hier die Post abgehen. Das Zelt war keine Bedrohung. Auch die Mannschaft der Santa Maria war keine Bedrohung, als sie 1492 in der Karibik strandete. Aber hinter ihr stand die spanische Krone. Und in diesem Zelt lagen nicht einfach zwei design lover aus Berlin, sondern mit ihnen Take Me to the Lakes, Facebook, Instagram, Mark Elliot Zuckerburg und das halbe Silicon Valley. Was kann man dagegen ausrichten an einem Sonntagmorgen am See?
Die beiden im Zelt hörten, wie ich aus dem Wasser stieg und wieder über sie hinwegturnte. Sie hörten, wie wir unsere Sachen packten. Sie hörten meine schweren Schuhe auf dem Holz. Und die Rohrdommel. Sie hörten nicht, wie die Luft aus ihren Fahrradschläuchen wich. Sie hörten nicht, dass ich zurückkam, um auch die Ventile herauszuschrauben.
Sie wissen nicht, dass ich für den Rest des Tages hin- und hergerissen war, zwischen der Freude, nicht wütend und ohnmächtig das Feld geräumt zu haben und dem Mitleid, angesichts des weiten Weges mit einem platten Reifen zum nächsten Bahnhof. Ich habe überlegt, ob ich am Nachmittag an den Straßen dorthin nach zwei Radfahrern suche, die Hilfe brauchen. Vielleicht hätten sie mir erzählt, was das hier für eine üble Gegend sei und dass ihnen irgendwelche Dorfnazis die Luft aus den Rädern gelassen hätten. Ich hätte sie nicht korrigiert.