Verhüllt im Saal

Eine Maske an einem Elektrozaun, der gegen die Afrikanische Schweinepest entlang der Oder aufgebaut wurde, Ostern 2021.

Seit mehr als einem Jahr erledigen wir viele unserer täglichen Verrichtungen mit einer als „Mund-Nasen-Schutz“ bezeichneten Gesichtsmaske. Erst waren es so genannte Alltagsmasken, meine Mutter nähte sie für die ganze Verwandtschaft aus Stoffresten. Gerade als sich die Modeindustrie der neuen Textilen annahm, wurde das Tragen der FFP-2-Masken obligatorisch. Diese Vorschrift wurde unterschiedlich streng gehandhabt, der Backstand am Berliner Bahnhof Gesundbrunnen hat jedenfalls Kunden, die nur eine einfache OP-Maske trugen, den Kaffee verweigert. Letztere wiederum sind in der brandenburgischen Pampa durchaus noch in Gebrauch, in unserem Haus liegen überall die vergrabbelten Masken der Kinder herum. Ab sofort ist meine Tochter, die noch eine Grundschule besucht, wieder von der Maskenpflicht befreit, mein Sohn dagegen geht aufs Gymnasium und muss sie weiterhin tragen. Auch beim Einkauf bleibt sie uns erhalten.

Man könnte erwarten und vielleicht auch hoffen, dass es bald vorbei ist mit der Maskenpflicht. Aber ich bin mir dessen nicht sicher. In den letzten Wochen haben immer wieder Politiker und Virologen gefordert, man solle die Maskenpflicht beibehalten, zumindest in bestimmten Zeiten und Bereichen, etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln. Man wolle die Zeit bis zum Herbst und die gegenwärtig immer noch ausgerufene epidemische Notlage nationaler Tragweite nutzen, um die gesetzlichen Möglichkeiten zu schaffen, das Tragen einer Maske auch weiterhin vorzuschreiben.

Bei all dem spielt, meiner Überzeugung nach, eine große Affinität zur Maske bei so manchen Menschen eine Rolle. Ich habe das beobachtet, auch bei jüngeren Leuten, die sie scheinbar gern trugen. Ja, die Maske schützt, jedenfalls in psychologischer Hinsicht, vor der Welt und ihren Zumutungen. Ich will dieses Gefühl nicht bewerten und es auch nicht verunglimpfen. Aber ich möchte aus der Sicht eines Kulturveranstalters, der Theateraufführungen, Museumsbesuche und öffentliche Feste organisiert und selbst immer wieder mal auf der Bühne steht, die Auswirkungen von Masken im Gesicht auf das kulturelle Begegnen und Erleben beschreiben.

Dass eine Maske einen großen Teil des Gesichts verhüllt, ist kein Geheimnis. Das mag Vorteile haben. Man kann etwa einen säuerlichen Zug um den Mund verbergen, der einen schon lange stört. Ältere Menschen könnte dagegen bekümmern, dass ihre Falten um die Augen betont werden, sonst ist ja vom Gesicht kaum noch etwas zu sehen. Die Bilanz hinsichtlich der Eitelkeit fällt also mindestens unentschieden aus.

Aber bei Kultur geht es nicht um Eitelkeit. Unsere Gesichter sind Ausdruckswunder. Wenn wir lachen, verzerrt sich der Mund und das ganze Gesicht gerät in Spannung. Wir blecken die Zähne und stoßen unkontrollierte Laute aus. Das ist nicht in jedem Fall attraktiv, aber es ist ansteckend, und es ist wahrhaftig. Und dann gibt es noch die tausend anderen Regungen im Gesicht: Verblüffung, Ärger, Empathie, Schock. All das spielt sich auf und in unseren Gesichtern ab. Dieses wunderbare Geschehen mit einem Achselzucken zu versiegeln, ist nicht nur lieblos, es zeugt von einem fehlenden Verständnis dessen, was bei einer Kulturveranstaltung mit den rezipierenden Menschen passiert. Die bürgerliche Form des Kulturgenusses ist auf eine eher passive Mitwirkung am Geschehen reduziert – man sitzt und schaut, am Ende gibt es vielleicht Beifall. Aber mit dieser Disziplinierung ging eine enorme Sensibilisierung und Dynamisierung des kollektiven Erlebnisses einher. Das Mienenspiel auf den Gesichtern und die spontanen Lautäußerungen der Menschen sind Teil eines Geschehens, in dem sich die einzelnen Zuschauer zu einem kollektiven Subjekt vereinen – dem Publikum. Und dieses Publikum ist ein wichtiger Akteur der lebendigen Kultur. Es kommt nicht nur auf die Künstler an, es kommt ebenso auf jene an, die zuschauen oder zuhören. Diesen kollektiven Akteur mit einer Maske zu verhüllen; das ist, als binde man einem Pianisten die Hände oder verklebe einem Sänger den Mund. Ganz zu schweigen von der Schwierigkeit, etwa für die Schauspieler, nicht mehr in den Gesichtern ihrer Zuschauer lesen zu können.

Zudem gibt es auch aktivere Formen der kulturellen Begegnung – das gemeinsame Singen etwa, oder das Gespräch. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen: Ich bin nicht dazu in der Lage, diese Tätigkeiten mit einer Maske auszuüben. Die Luft strömt nicht, der Klang ist dumpf, man kann nur ein paar Mitteilungen bellen. Wer meint, eine Maske bei Salongesprächen oder beim gemeinsamen Singen sei doch nicht so schlimm, hat eine sehr eingeschränkte Vorstellung von der menschlichen Begegnung und dem, was in ihr geschieht.

Und doch sind dies nur vergleichsweise äußerliche Aspekte, die noch gar nicht den Kern der Masken-Vorschriften treffen. In die medizinische Debatte über den Sinn dieser Maßnahme möchte ich hier nicht einsteigen, mir geht es um etwas anderes: Die Maske ist zu einem Zeichen geworden und als solches hat sie für die Politik eine ganz zentrale Bedeutung erhalten.

Nehmen wir eine einfache Erfahrung, die sicher viele so oder ähnlich gemacht haben: Im Frühjahr war ich bei einer großen Beerdigung, es waren über 200 Menschen auf den Friedhof gekommen. Fast alle trugen Masken, selbst die Angehörigen standen mit beschlagenen Brillen am Grab ihres Vaters, unter dem freien Himmel des Oderbruchs. Auch den kleinen Kindern hatte man eine Maske aufgesetzt. Kaum jemand wusste zu diesem Zeitpunkt noch, ob die aktuelle Eindämmungsverordnung das bei den immensen Abständen, die die Trauendern zueinander einhielten, überhaupt vorschrieb – aber darauf kam es inzwischen auch nicht mehr an. Denn mit dem Tragen der Maske sollen die Menschen zeigen, dass sie Corona für eine ernste Gefahr ansehen und die Maßnahmen der Regierung unterstützen. Nur so ist es zu erklären, dass das Tragen in vielen Veranstaltungen trotz zahlreicher anderer Vorkehrungen vorgeschrieben blieb.

Umgekehrt mussten jene, die keine Maske tragen wollten, damit leben, dass sie als Kritiker der Maßnahmen oder sogar als Corona-Leugner angesehen wurden, ganz unabhängig davon, ob das wirklich der Fall war. Die Maske steht für die Anerkennung der Politik, sie ist ein öffentliches Bekenntnis. Dass sie diese Bedeutung erlangen konnte, hat mit einer strategischen politischen Entscheidung im März 2020 zu tun, die als solche kaum diskutiert wurde: Die Instrumente der staatlichen Restriktion, des Verbots und der Strafe wurden mit den Instrumenten des moralischen Appells und des Aufrufs zur Solidarität verknüpft. Solch eine Verknüpfung kennt man sonst nur von Mobilmachungen für echte Kriege.

Hegt denn überhaupt jemand solche Masken-Pläne für Kulturveranstaltungen? Ich habe keine Ahnung. Aber: Ich traue es jenen zu, die die Regeln für das letzte Jahr gemacht und durchgesetzt haben, genau solche Maßnahmen erneut vorzuschreiben. Für die Schulen sind ja bereits entsprechende Ankündigungen gemacht worden.

Die Wahrnehmung und Ausübung der öffentlichen Kultur sollte aber eben nicht an Bekenntnisse gebunden werden. Je deutlicher und gröber eine symbolische Handlung abgefordert wird, umso schwerer wird es, das offene Spiel zwischen Sinn und Sinnlichkeit zu entfalten. Je mehr man vorwegnimmt, umso mehr beraubt man die Kunst ihrer Möglichkeiten, mit ihren Mitteln einen Beitrag zur Menschlichkeit zu leisten. Die verordneten Einschränkungen mögen noch so begründet sein und sie mögen noch so wenig mit dem Thema der jeweiligen Kulturveranstaltung zu tun haben: Werden sie symbolisch, schaden sie der voraussetzungslosen und freien Kunstrezeption und beeinträchtigen die Integrität der Kultur.

Es ist gar nicht so lange her, da gab es eine politische Forderung, die hieß: Gesicht zeigen! Meistens wurde dieser Slogan im Kampf „gegen rechts“ gebraucht. Aktuell hat man ihn abgeschafft, denn die Codes haben sich verschoben, die Maske ist das neue Gesicht gegen rechts. Mir sind diese Zuordnungen suspekt und ich will mit ihnen nichts zu tun haben. Ich kann nur sagen: Wenn eine Maskenpflicht für Kulturveranstaltungen dauerhaft durchgesetzt wird, kann ich meinen Beruf nicht mehr ausüben. Dann muss ich etwas anderes machen.

18. Juni 2021