Abgehängt sein und abgeschleppt werden

Mir gefällt der Begriff nicht – Pendler. Ein Pendel schlägt. Hin und her. Bedächtig. Wer fährt morgens bedächtig nach Berlin, Cottbus, Frankfurt/Oder oder Eisenhüttenstadt? Diese Bewegungen gleichen eher denen von Webschiffchen. Es ist ein Fliegen, hin und her, ein Ziehen von Fäden, die das Gewebe zusammenhalten – den »ländlichen Raum« und die »Zentren«. Wobei diese beiden Kategorien, mit Abstand – vom Mond aus – betrachtet auch nicht funktionieren. Von dort aus gesehen liegt der Landkreis in einem nachts gut sichtbaren Lichterband, das sich von Paris über Aachen bis nach Nishni Novgorod ersteckt – einem metropolitanen Korridor. In diesem Korridor bewegen sich Waren, Menschen, Informationen mit hoher Geschwindigkeit. Dort geht die Post ab. Nur ist dieser Korridor in unserer Gegend teilweise ziemlich dünn. Kaum breiter als die Gleise, auf denen der Berlin-Warszawa-Express und der RE1 fahren, und die Autobahn A12. Wer von ihr abfährt, steht im Wald. Ohne Empfang. Wen wundert das? Als in Berlin die Rohrpost eingeführt wurde, fuhr in Beeskow noch die Postkutsche. Das war selbst damals so kurios, dass der Diensthut des letzten Postkutschers bis heute im Museum verwahrt wird.  

Kurzum: Ich hätte es besser wissen können. Aber die freundliche Bitte, meinen Scanner auszuleihen und nach Eisenhüttenstadt zu bringen, konnte ich nicht abschlagen, weil eine Hand die andere wäscht und zur Belohnung an diesem Montagabend eine Portion Ćevapčići winkte. Das Gerät im Kofferraum startete ich in die Dezembernacht. Ich bremste am Blitzer und beschleunigte, als Beeskow hinter mir lag. Im Rückspiegel sah ich bald nur noch die angeleuchtete Marienkirche und das hellere Spanplattenwerk. Vor mir blinkten die roten Positionslichter der Windräder. Links und rechts zogen im Dunkeln die Alleebäume vorbei, als das Auto erst kaum merklich und dann immer zu stärker zu rucken anfing, als würde es vorwärts stolpern. Plötzlich leuchteten mehr rote Lichter auf dem Armaturenbrett als am Horizont. Der Wagen verlor trotz beherzten Gasgebens an Tempo, um schließlich mit ersterbendem Motor auszurollen und am Straßenrand in einer leichten Kurve zum Stehen zu kommen. 

Wer aus der Logik der Weberschiffchen, dem emsigen Hin- und Herfliegen, herausgerissen wird, der steht schlagartig still. Wer mit dem Auto liegen bleibt, wer am Bahnsteig steht, und der Zug fällt aus, wer auf einen Bus wartet und feststellt, dass der in den Schulferien nicht fährt, der kennt dieses Gefühl. Plötzlich rücken Ziele, die eben noch greifbar waren, in die Ferne, werden aus Distanzen, die in Minuten zu meistern gewesen wären, unüberwindbare Entfernungen. So stand auch ich etwas verloren herum, nachdem der Warnblinker gesetzt war, das Warndreieck stand und ich die Warnweste übergezogen hatte. Es war still, kalt, klar, der Sternhimmel eine Pracht. Vielleicht war genau hier, wo ich jetzt stand, vom Weltraum aus betrachtet, eine schwarze Lücke im hell erleuchteten Korridor Paris-Nishni Novogorord. Ich aber konnte die Milchstraße sehen. 

Und ich hatte Empfang und auch noch leidlich Akku. Deshalb kramte ich das goldene Mitgliedskärtchen hervor, das versichert, dass ich Inhaber einer PLUSmitgliedschaft mit Mobilitätsgarantie sei und rief die darauf vermerkte Münchener Nummer an, die Hilfe bei Autopannen verspricht. Es dauerte etwas, aber bald konnte ich einem freundlichen Mann am anderen Ende der Leitung meine missliche Lage schildern. Der sagte, es sei gerade sehr viel los, aber in vier Stunden wäre ein Mechaniker bei mir. Wenn dieser nicht helfen könne, käme in noch einmal fünf Stunden ein Abschleppwagen. Und nein, der könnte nicht direkt beauftragt werden. Ich erzählte von den vielen unbekannten roten Lämpchen, vom kläglichen Ersterben der Maschine. Es half nichts. 

Vier Stunden. Und dann nochmal fünf. Ich war losgefahren, als die letzten Feierabend machten und würde noch hier stehen, wenn die Ersten wieder zur Arbeit fahren. Zum ersten Mal fühlte ich mich abgehängt. Das Wort wird gern benutzt, wenn Gegenden wie die hiesige beschrieben werden. Es ist ein etwas eleganterer, also noch verlogenerer, Ausdruck für »zurückgeblieben«, im Sinne von: selbst schuld. Aber mir wurde in diesem Moment klar, dass niemand abgehängt ist – man wird abgehängt. Im Zweifel von denen, die einem eine Mobilitätsgarantie ausgestellt haben. 

Ich rief meinen Nachbarn an. Er hat mich nie hängen lassen. Nicht als ich mich in der eigenen Wiese festgefahren hatte und auch nicht, als es auf dem schlammigen Weg zum Wald kein vorwärts und kein zurück mehr gab. Wenn es ums Abschleppen geht, denk ich an ihn. Sein Telefon kennt keine Warteschleife, und er hatte noch vom Abendbrot den Mund voll, als er mir versprach, sofort loszufahren. Kaum hatte ich aufgelegt, schickte er mir seinen Standpunkt und ich hätte verfolgen können, wie er sich in meine Richtung bewegte, wenn nicht der Akku des Telefons in der Kälte langsam schlapp gemacht hätte. Es würde keine Stunde dauern. 

Eine Stunde in einer klaren Dezembernacht kann lang sein. Wer aus dem bewegten Hin- und Herfliegen zwischen Berlin und Eisenhüttenstadt herausgerissen ist und an den Krügersdorfer Eichen in einer leichten Kurve steht, der könnte diese Zeit prächtig nutzen, um ein wenig darüber nachzudenken, ob diese ganze Fahrerei eigentlich sinnvoll ist, das ganze Hetzen, die enge Taktung der Termine, die nur auf dem Bildschirm des Rechners vernünftig aussieht. 

Dazu kam ich nicht. Kaum ein Auto fuhr an mir vorbei, fast alle stoppten. Ein Jäger fragte, ob dies ein Wildunfall sei und ob er einem verletzten Tier nachstellen solle, er habe den Hund dabei. Andere fragten, ob ich ins nächste Dorf mitgenommen werden wolle, ob ich telefonieren möchte. Mir wurden Kaffee aus der Thermoskanne und übriggebliebene Pausenbrote angeboten. Am Straßenrand zwischen Beeskow und Eisenhüttenstadt ist man nachts offenbar gut aufgehoben. Schließlich kam mein Nachbar mit großem Hallo, machte ein paar beherzte Witze auf meine Kosten, die ich ihm gönne, und schleppte mich bis vors Tor der Autowerkstatt von Heiko Boschan im nächtlichen Görsdorf. 

Am nächsten Morgen, als der Schulbus die Kinder in Richtung Tauche und Beeskow karrte, lief ich los, über die Feldwege zur Werkstatt, um dort zu erklären, warum wir des nachts mein Auto vor ihre Tür gestellt hatten. Heiko Boschan sah mich mitleidig ein. Ich bin mir nie sicher, ob er mit mir Mitleid hat, weil mein Auto kaputt ist, oder mit meinem Auto, weil es mein Auto ist. Aber ich weiß, dass in dieser Gegend niemand allein unterwegs ist. 

17. Oktober 2024