1989 begann ich mein Studium in Leipzig. Ich war 20 Jahre alt und frisch aus der Armee entlassen, hinter mir lagen anderthalb Jahre Wehrdienst. Ich hatte gelitten, die Zeit war ein einziger innerer Alarm gewesen. Aber nun war ich entlassen, und ich fühlte mich vollkommen frei. Es war Spätsommer, die Luft roch nach Großstadt, sie schwirrte vom Quietschen der Straßenbahnen, die Häuser waren verfallen, es ging ein starker Reiz davon aus, denn trotz der ruinösen Bausubstanz war alles voller Leben. Ich fand ein Zimmer zur Untermiete bei einer Freundin, die auch schon Untermieterin war. Von einer Brache unweit meiner Wohnung holte ich mir zwei Paletten, die wurden mein Bett. Im Treppenhaus gab es ein Plumpsklo, der Weg dorthin war ein kleines Abenteuer, denn der verrückte Herr Paul stellte alle zur Rede, die ihm im Haus begegneten. Was machndn sied ´n hier? Isch bin hier dor Obormietor! Dann riss er die Augen auf und lachte wild. Ho ho hoooo! Isch hab schlechtes Blut, jawohl, da machen se was rein, dursch´s Fernsehn, jahwohl. Da wersch reinrotzn, da obn, mit nor Leuschtpistole, jawohl! Ich weiß nicht, warum Herr Paul so war, es hieß, er habe einen schweren Arbeitsunfall gehabt. Oft schraubte er im Hof an einem Lada, zu DDR-Zeiten durchaus ein teures Auto. Nach dem anfänglichen Schreck kamen wir gut miteinander aus, manchmal schossen wir mit einem Luftgewehr im Hof auf Blechbüchsen.
Unterdessen nahmen an der Nikolaikirche die Demonstrationen Fahrt auf. Es war ein Raunen in der Luft, das immer lauter wurde. Meine Kommilitonin Elli war Leipzigerin, sie machte sich Sorgen um ihre Brüder und entschied bald, auch zu demonstrieren zu gehen. Ich wusste erst nichts damit anzufangen, ich war ja gerade aus der Armee gekommen und fühlte mich wunschlos glücklich. Als ich Anfang September bei der Immatrikulation unterschreiben sollte, mich zum Reserveoffizier ausbilden zu lassen, lehnte ich das gelassen ab. Es betraf mich alles nicht mehr, ich wollte studieren, und ich tat es mit Leidenschaft. Oft saß ich bis weit in den Abend in der Deutschen Bücherei, und immer wieder durchfuhr mich das Gefühl, ein ungeheuerliches Privileg zu genießen: Ich durfte studieren, jahrelang, und allem nachgehen, was mich interessierte!
Erst im November ließ ich den gesellschaftlichen Konflikt an mich heran und entschloss mich, nun auch demonstrieren zu gehen. Da war es schon nicht mehr mutig, es gingen jetzt viele dorthin. Man sah am Montagnachmittag die Mitarbeiter der Stasi auf den Universitätsgebäuden ihre Kameras installieren, aber das wirkte unwirklich. Erst nach und nach begann ich mich zu fragen, was ich aus meinem jungen Leben vor 1989 eigentlich für Lehren ziehen wollte. Mit einem Freund war ich im Stadtteil Lindenau unterwegs und begegnete Herrn Paul. Er rief uns fröhlich zu: Hallo meine Freunde, ihr seid doch von der Staatssicherheit! Das waren wir nicht, nie gewesen, aber was waren wir denn? Junge, aber doch nicht mehr unbeschriebene Blätter der DDR. Darüber dachte ich damals viel nach.
Herr Paul lief unterdessen die Treppe bei mir im Haus hoch und runter und er rief: De Intelligenzschlor, die könn´ och mal de Treppe saubermarchen, jawohl! Das habe ich dann auch immer gemacht. Und währenddessen dachte ich darüber nach, was die Ereignisse zu bedeuten und was sie mit mir zu tun hatten. Denn so unbeschwert ich gerade lebte, ich war doch ein Kind meiner Zeit, und auch in meinem kurzen Leben steckten schon einige Erfahrungen.
Ich hatte erlebt, dass es kein gutes Zeichen ist, wenn man sich beim Reden selbst beobachten und zensieren muss. Wenn man seine Worte ständig abwägen, wenn man nicht im Vertrauen auf seine Umwelt sprechen kann. Es deutet darauf hin, dass im Verhältnis von Denken, Sprechen und Gesellschaft etwas nicht in Ordnung ist. Hat man dieses Gefühl einmal erlebt, wird man es immer wieder erkennen.
Ich hatte auch erfahren, dass man sich hüten sollte, den vorgegebenen Mustern im Sprechen allzu bereitwillig zu entsprechen. Das wusste bei uns jeder Schüler: Man machte sich vor den anderen unmöglich, wenn man die Formeln der Lehrer und Pionierleiter allzu bereitwillig wiederholte. Man musste etwas Distanz wahren. Die Skepsis der Masse; da, wo sie einmal aufglimmt, ist sie hilfreich.
Wahr ist aber auch, dass diese Masse nur wenig echte Geborgenheit bietet. Sie ist ein Resonanzboden der Glaubwürdigkeit, mehr nicht. Man sollte sich nicht zu weit entfernen von dem, was an einem guten Stammtisch gesprochen wird, man sollte wissen, was dort gesagt wird. Aber wenn‘s drauf ankommt, braucht man eine eigene Klarheit. Schön wäre es, wenn man drei, vier Freunde hat, die zu einem halten. Mehr kann man nicht erwarten.
Aber das Wichtigste war vielleicht der Herr Paul. Ja, er war verrückt. Aber deshalb gab es keinen Grund, auf ihn herabzusehen. Was wusste ich denn schon? Gar nichts wusste ich von ihm! Ich glaube, bei allem, was mir später zugestoßen ist, kam es vor allem auf eins an: sich nicht für etwas Besseres zu halten. Wir halfen dem Herrn Paul, wenn es am Haus etwas zu reparieren gab, oder wenn die Leitungen mit Lappen umwickelt werden mussten, damit im Winter das Wasser nicht einfror.
Von da an ging alles Schlag auf Schlag. Wir hatten alle Hände voll zu tun, uns in das neue System hineinzufinden und zu versuchen, einen Platz darin zu finden. Das war schwer genug, ich denke heute, dass ich nicht ohne Grund aufs Land gegangen bin. Ich kam mit den Hierarchien nicht klar und nicht mit dem, was man unter Professionalität und Erfolg verstand. Es blieb mir vieles fremd, auf dem Land dagegen konnte ich mich mit den Dingen vertraut machen. Deshalb war das folgerichtig.
In den Jahren der wiedervereinigten Bundesrepublik schien das, was man in seiner Jugend gelernt hatte, nicht mehr benötigt zu werden. Nur die Haltung zu den anderen, die auch meine Zeit mit dem Herrn Paul geprägt hatte, die war mir immer von großem Nutzen gewesen. Sie hat meine Wege in das ländliche Leben geöffnet. Ich verdanke den Leuten hier viel.
Nun haben sich die Zeiten geändert, und so muss ich doch wieder öfter an meine Leipziger Studienzeit denken. Sonderbar, fast ein Berufsleben liegt zwischen heute und damals, und auf einmal habe ich den Eindruck, die alten Lehren meiner Jugend wieder zu benötigen: Wenn du dich beim Sprechen überwachen musst, stimmt etwas nicht. Plappere nicht alles nach, was dir vorgesetzt wird, halte Abstand. Verlass dich nicht auf die anderen, sondern folge Deinem Instinkt. Pflege Deine Freundschaften. Und eben, vor allem: Halte dich nicht für was Besseres, denn durch den Dünkel wirst du manipulierbar.
Seitdem muss ich immer wieder an den Herrn Paul aus Leipzig denken. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Wir fanden ihn damals wunderlich, aber er gehörte dazu, und er machte gute Laune. Er hatte doch seinen Platz, in dieser Welt. Das Haus in Lindenau ist heute saniert – hätte er es nicht erhalten, es wäre in den neunziger Jahren schon verfallen gewesen. Aber das weiß nur noch ich.
Und ich weiß, dass Herr Paul in den Wirren des 89er Herbstes, mitten in der revolutionären Wende, auf dem Augustusplatz erschien, wo eine Reporterin des ZDF die Leipziger Bürger befragte. Und der Herr Paul drängelte sich vor, riss die Augen auf und rief: Die machen da was rein, jawohl, mit Laserstrahlen! Isch hab schlechtes Blut, jawohl, von dor Staatssicherheit, da wer’sch reinrotzen da oben, jawohl! Ho, ho, hooo! Und die Journalistin verstand kein Wort Sächsisch und konnte das Statement auch nicht einordnen und hatte vielleicht ein bisschen Angst vor diesem aufgebrachten Mann. Und sie dachte sich wahrscheinlich, das ist also ein Leipziger DDR-Bürger, so sind diese Menschen hier also, wir wollen nicht arrogant sein, nein, das natürlich nicht, aber sie sind uns unterlegen, diese Ossis, das ist doch ganz eindeutig.
Und ich dachte damals schon: Das geschieht dir recht, dass du das so sehen musst, du wirst die Komik dieses Augenblicks nie verstehen.