Opfer, über die niemand spricht

Eines der Opfer in den israelisch-palästinensischen Konflikten ist der Arabische Leopard. Ein Bekannter, der in Tel Aviv lebt, erzählte mir davon. Er sprach über diesen uralten Konflikt, in dem alle nur verlieren und der so viel Leid über alle bringt – und eben über den Leoparden, der in Achtziger Jahren zum letzten Mal gesehen worden sei. Er habe in der Judäischen Wüste und in der Negev gelebt und wurde Opfer von immer mehr Zäunen und Grenzanlagen, die seine Wege abschnitten. Sang und klanglos ist er in diesen Lebensräumen ausgestorben. Man sah ihn einfach nicht mehr, und vergaß ihn. Über den Leoparden, sagte mein Bekannter, spricht niemand.

Beim Aufspüren von Opfern, über die niemand spricht, muss man aufmerksam sein. Denn es sind die, die in den Diskussionen abwesend sind. Es gilt zu fragen: Was wurde nicht genannt? Was wird nie erwähnt? Was wirkt fehl am Platze? Vielleicht sogar verdächtig? 

Ein weiters Opfer, über das niemand spricht, ist heute die Schönheit. Schon das Wort steht, sobald man es ausspricht, wie ein ungebetener Gast im Raum. Neulich war ich bei einer Eröffnung in einem kleinen Schloss, dessen Dauerausstellung und Interieur kritisch überarbeitet worden waren. Alles war gut geworden, stimmig und mit viel Sorgfalt gemacht. Unbedacht sagte ich zur Leiterin des Hauses: „Das ist wirklich schön geworden“. Einige Gäste hörten es auch. Man konnte förmlich sehen, wie peinlich das allen war. Es wäre kaum schlimmer gewesen, hätte ich mich hingesetzt und mitten in den Saal gekackt. „Schön“. Was für ein ganz und gar unangemessenes Wort. Altbacken, gestrig, gefühlig und vollkommen unintellektuell. Wenn schon, dann sprechen wir bitte von Ästhetik. Das ist Schönheit, mittels Reflexion auf Abstand gebracht und der Vernunft anverwandelt. Aber selbst die, scheint mir, hat es heute schwer. Alles ist zu dringlich geworden – für Schönheit oder für Ästhetik ist kein Platz. 

Schauen wir uns unsere Städte an! Berlin? Muss aufgefüllt werden. Schließlich brauchen wir Wohnraum. Jeden Tag wird dabei die Stadt, die ich einst mochte, zu einem verbauteren und hässlicheren Ort. Überall Investorenarchitektur, die allerorten gleich aussieht. Das Spreeufer? Nicht mehr sichtbar. Die verwunschenen Bombenlücken, wo Birken gewachsen waren und Dünengräser blühten? Verschwunden. Wenn jemand darüber klagt, ist er ein Unverbesserlicher, ein weltvergessener Romantiker – und unsozial. Meist klagt aber niemand. Wir alle spüren: Es ist nicht die Zeit dazu.

Und das Land? Auch das Land wird bedrängt von Dringlichkeiten. Folgt man heute einem Diskurs über Landschaften, hat man den Eindruck, mitten in einem Kriegsgeschehen zu stehen. Wir bewerteten die Landschaften nach ihrem Vermögen, sowohl Holz wie auch Ackerfrüchte zu produzieren, möglichst große Mengen CO2 zu binden und zugleich erneuerbare Energie für die Energiewende zu produzieren. Möglichst viel Energie. Möglichst sofort. Möglichst umfassend soll die Wende sein. Denn wir haben keine Zeit. Kürzlich saß ich in einer Diskussion zu diesem Thema, in der eine Studentin mir entgegenschleuderte, für Ästhetik sei es zu spät, angesichts der Größe der Aufgabe und in Anbetracht der nötigen Geschwindigkeit. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, mich in einem Modernisierungsprojekt zu befinden, von einem Geltungsanspruch beseelt, wie man ihn aus den Umwälzungen der 70er Jahre kennt. Unter neuen Vorzeichen, aber mit dem gleichen Ernst, der gleichen Unerbittlichkeit und Blindheit gegenüber allen Dingen, die nicht in den gültigen Ideenkanon passen. 

Eines der Dinge, die hier nicht mehr passen, nennen Journalisten zurzeit gerne „Bullerbü“. Ich habe keine Ahnung, weshalb gerade „Bullerbü“ zum Inbegriff dessen wurde, wovon wir uns verabschieden müssten. Aber immer wieder lese ich „Bullerbü“. „Abschied von Bullerbü“. Irgendwelche Gestrigen hingen immer noch Bullerbü-Vorstellungen an. Sie entstammten einer Zeit, in der man es sich noch leisten konnte, … . Ja was eigentlich? Abgerufen werden dann immer Bilder von Menschen, die wahlweise Streuobstwiesen oder welliges Grasland lieben, die darauf Ziegen halten und sich von denselben am Ende vielleicht noch einen guten Käse einverleiben. Sprich, von Leuten, die darauf bestehen, zu ihren Landschaften eine Beziehung zu pflegen. Eine von Geben und Nehmen, zu der auch der Genuss von Schönheit gehört.

Interessant ist, dass dieses Mensch-Landschaftsverhältnis bis vor Kurzem noch als etwas Positives und Schützenswertes galt. Noch in den 90ern und frühen 2000ern standen Kulturlandschaften 1 hoch im Kurs. Landschaften, in die sich eine maßvolle, kleinräumige erhaltende Wirtschaftsweise eingeschrieben haben, sodass Strukturen entstehen, die wir – ja – als schön empfinden. Der Wert, der ihnen zuerkannt wurde, umfasst ihre Schattenbäume, Hecken und Ackerraine – aber auch das Gedicht, das sie feiert und den Reichtum an Vögeln und Schmetterlingen. Biologen meinen, die Vielfalt der Arten in diesen Landschaften – dort, wo sie noch erhalten sind – übertrifft jene, die Menschen als Biotope „der Natur zurückgeben“. 

Freilich könnten auch Windräder oder PV-Anlagen Strukturen schaffen. Sie könnten Teil von Landschaft, Vielfalt und Schönheit sein. Aber kaum dunkelspiegelnde Flächen, die den Boden bedecken, soweit das Auge reicht. Oder Scharen von Windturbinen, die den Horizont versperren. Oder jäh hinterm Dorf aufragen, sodass die Landschaft hinter ihnen wirkt, als wäre sie ein Versehen. 

Heute sind Menschen, die mit ihren Landschaften eins sein wollen, abgemeldet. Gestern waren sie noch Hoffnungsträger, heute sind sie Typen, mit denen niemand mehr seine Diskussionsrunde  schmücken möchte.  Im gnädigsten Falle werden sie vergessen. Denn es sind „Wohlfühlökos“, die sich nach Bullerbü sehnen. Oder schlimmer noch: Leute, die die  „Klimawende im Wohlfühlmodus“ erreichen wollen. Das Wohlfühlenwollen steht wie ein schlimmer Vorwurf im Raum. 

Dabei ist Wohlfühlen in unserer Gesellschaft in anderen Bereichen durchaus erlaubt. Wohlfühlen durch Konsum und durch Unterhaltung sind Dinge, die der modernen Gesellschaft, die sich „den Klimaerfordernissen stellt“, durchaus zuerkannt werden. Für sie wird die Technikwende vorangetrieben, mit ihnen wird Geld verdient, und für sie müssen sich Tausende von Windturbinen drehen. Verübelt wird seltsamerweise nur das Wohlsein in einem Verhältnis zur Natur, das mehr umfasst als die CO2-Bilanz. 

Ich meine, wir bräuchten es. Ein Verhältnis zur Welt, das mehr ist als ein Rechenmodell. Ein Effizienzdenken unter neuen Vorzeichen. Eine Reduktion. Ein Ausklammern. Ein Modus des Rechthabens. Denn das Rechthaben im Namen großer Ziele führt in dieser Welt zu den schlimmsten und nachhaltigsten Verwerfungen. Und zu den größten Opfern, über die niemand spricht. Zum Verlust von Dingen, die wir nie wieder bekommen. 

  1. ↩︎
30. November 2023