Eines der Opfer in den israelisch-palästinensischen Konflikten, über die man am wenigsten spricht, ist der Arabische Leopard. Ein Bekannter, der in Tel Aviv lebt, erzählte uns davon. Wir sprachen über diesen alten, unendlich komplizierten Konflikt, in dem alle nur verlieren und der so viel Leid über alle bringt. Aber über den Leoparden spricht niemand. Er lebte in der Judäischen Wüste und in der Negev und wurde Opfer von immer mehr Zäunen und Grenzanlagen, die seine Wege abschnitten. Sang und klanglos ist er in diesen Lebensräumen ausgestorben. Man sah ihn einfach nicht mehr.
Ein anderer Kollateralschaden ist die Kultur der Beduinen. Um sie ging es nie, aber nachdem die Beduinen abgedrängt, das Land neu vermessen und die Grenzen neu gezogen waren, ist ihre Lebensweise nicht nur verloren gegangen, sondern in dieser Gegend auch unmöglich geworden. Die nomadische Lebensform braucht Weite und Raum, um mit den Viehherden von einem Ort zum anderen zu ziehen. Irgendwo habe ich gehört, dass die Beduinen ursprünglich einmal den Ackerbau und die Sesshaftigkeit in diesen wasserarmen Regionen als eine der größt möglichen Sünden überhaupt betrachtet hätten. Weil beides der Erde auf lange Sicht zu viel Wasser nimmt. Was immer sie dachten und wussten, aus der Negev ist es verschwunden[1]. Man mag mir entgegenhalten, dass es in dieser Ecke der Welt nun wirklich Wichtigeres gibt, das uns beschäftigen sollte. Aktuell. Und auch in der Vergangenheit.
Aber mich interessieren nun mal jene Opfer, über die niemand spricht. Manchmal passiert es mir, dass mir beim Aufnehmen der großen Themen und Dringlichkeiten der Zeit die Ohren rauschen, das Gehirn taub wird und meine Rezeptoren sich verweigern, auch nur ein einziges weiteres Mal eines dieser Worte zu speichern, die die Diskussionen beherrschen, und dann sitze ich da, sehe aus, als würde ich weiter das Geschehen verfolgen, und lausche auf die Fehlstellen. War da irgendwas, das sie uns sagen wollten? Diese Dinge oder Lebewesen, Ideen, Ordnungen, geistige oder physische Territorien der Welt, die gerade vergessen werden? Vielleicht genau jetzt? Und mit ihnen der Wert, den sie hatten? Der vielleicht für immer verspielt sein wird, weil dann, wenn uns auffällt, dass dieses Etwas fehlt, sich niemand mehr genau erinnern kann. Was war das? Wozu war es da? Was hat es bedeutet? Wo ist es hin?
Beim Aufspüren dieser Opfer muss man aufmerksam sein. Denn es sind ja eben die, die in den aktuellen Gefechten immer abwesend sind. Es gilt also zu fragen: Was wurde nicht genannt? Was wird nie erwähnt? Was wirkt, wenn jemand versehentlich das Wort fallen lässt, fehl am Platze? Vielleicht sogar verdächtig?
Ein weiteres Opfer, über das niemand spricht, ist die Schönheit. Die Schönheit ist zweifelsfrei verdächtig. Schon das Wort steht, sobald man es ausspricht, wie ein ungebetener Gast im Raum. Neulich war ich bei einer Eröffnung in einem kleinen Schloss, dessen Dauerausstellung und Interieur kritisch überarbeitet worden waren. Alles war gut geworden, stimmig und mit viel Sorgfalt gemacht. Unbedacht sagte ich zur Leiterin des Hauses: „Das ist wirklich schön geworden“. Einige Gäste hörten es auch. Man konnte förmlich sehen, wie peinlich das allen war. Es wäre kaum schlimmer gewesen, hätte ich mich hingesetzt und mitten in den Saal gekackt. „Schön“. Was für ein ganz und gar unangemessenes Wort. Altbacken , gestrig, gefühlig und vollkommen unintellektuell. Wenn schon, dann sprechen wir bitte von Ästhetik. Das ist Schönheit, mittels Reflexion auf Abstand gebracht und der Vernunft anverwandelt. Aber selbst die, scheint mir, hat es heute schwer. Alles ist zu dringlich geworden – für Schönheit oder für Ästhetik ist kein Platz.
Schauen wir uns unsere Städte an! Berlin? Muss aufgefüllt werden. Schließlich brauchen wir Wohnraum. Jeden Tag wird dabei die Stadt, die ich einst mochte, zu einem verbauteren und hässlicheren Ort. Überall Investorenarchitektur, die allerorten gleich aussieht. Das Spreeufer? Nicht mehr sichtbar. Die verwunschenen Bombenlücken, wo Birken gewachsen waren und Dünengräser blühten? Verschwunden. Wenn jemand darüber klagt, ist er ein Unverbesserlicher, ein weltvergessener Romantiker – und unsozial. Meist klagt aber niemand. Wir alle spüren: Es ist nicht die Zeit dazu.
Und das Land? Auch das Land wird bedrängt von Dringlichkeiten. Folgt man heute einem Diskurs über Landschaften, hat man den Eindruck, mitten in einem Kriegsgeschehen zu stehen. Wir bewerteten die Landschaften nach ihrem Vermögen, sowohl Holz wie auch Ackerfrüchte zu produzieren, möglichst große Mengen CO2 zu binden und zugleich erneuerbare Energie für die Energiewende zu produzieren. Möglichst viel Energie. Möglichst sofort. Möglichst umfassend soll die Wende sein. Denn wir haben ja keine Zeit. Kürzlich saß ich in einer Diskussion zu diesem Thema, in der eine Studentin mir aufgebracht entgegenschleuderte, für Ästhetik sei es zu spät, angesichts der Größe der Aufgabe und in Anbetracht der nötigen Geschwindigkeit. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, mich in einem Modernisierungsprojekt zu befinden, von einem Geltungsanspruch beseelt, wie man ihn aus den Umwälzungen der 70er Jahre kennt. Unter neuen Vorzeichen, aber mit dem gleichen Ernst, der gleichen Unerbittlichkeit und Blindheit gegenüber allen Dingen, die nicht in den gültigen Ideenkanon passen. Eines der Dinge, die hier nicht mehr passen, ist etwas, das Journalisten zurzeit gerne „Bullerbü“ nennen. Ich habe keine Ahnung, weshalb gerade „Bullerbü“ zum Inbegriff dessen wurde, wovon wir uns verabschieden müssten. Aber immer wieder lese ich „Bullerbü“. Irgendwelche Gestrigen hingen immer noch Bullerbü-Vorstellungen an. Sie entstammten einer Zeit, in der man es sich noch leisten konnte, … . Ja was eigentlich? Abgerufen werden dann immer Bilder von Menschen, die wahlweise Streuobstwiesen oder welliges Grasland lieben, die darauf Ziegen halten und sich von denselben am Ende vielleicht noch einen guten Käse einverleiben. Sprich, von Menschen, die darauf bestehen, zu ihren Landschaften eine Beziehung zu pflegen. Eine von Geben, Nehmen. Ein Verhältnis von Mensch und Landschaft. Interessant ist, dass so etwas bis vor Kurzem noch als Inbegriff schützenswerter Kulturlandschaft galt. Landschaft, in die sich eine maßvolle, erhaltende Art der Bewirtschaftung eingeschrieben hat. Landschaft, die auf diese Weise Struktur bekommt, die wir – ja – als schön empfinden. Freilich können auch Windräder solcherart strukturgebend sein. Aber schwerlich Hunderte von ihnen, die den Horizont versperren. Oder jäh hinterm Dorf zweihundert Meter aufragen, sodass die Landschaft darunter wirkt, als wäre sie ein Versehen.
„Bullerbü“ steht abfällig für Menschen, die sich in ihren Landschaften wohl fühlen wollen. Ich lese von „Wohlfühlökos“. Von Leuten, die „eine Klimawende im Wohlfühlmodus“ wollten. Das Wohlfühlenwollen steht wie ein schlimmer Vorwurf im Raum. Man schwingt sich aufs Rad und will eine Runde im Abendlicht fahren – sofort hat man ein schlechtes Gewissen dabei. Kann ich das? Ist dieses Wohlgefühl noch verantwortbar? Man geht raus, um die Obstbäume zu schneiden, einen Haufen von Laub und Reisig aufzuschichten. Das macht Arbeit, doch am Ende fühlt man sich gut dabei. Denn das Herbstlaub leuchtet, wenn die Sonne warm darauf liegt, die Wangen sind frisch und auch der Igel hat jetzt ein Winterquartier. Aber – darf man das? Ein Wohlgefühl empfinden – im eigenen Garten?
Dabei ist Wohlfühlen in unserer Gesellschaft in anderen Bereichen durchaus erlaubt. Wohlfühlen durch Konsum und durch Unterhaltung sind Dinge, die der modernen Gesellschaft, die sich „den Klimaerfordernissen stellt“, durchaus zuerkannt werden. Für sie wird die Digitalisierung vorangetrieben und für sie müssen sich Tausende von Windturbinen drehen. Verübelt wird seltsamerweise nur das Wohlsein in einem Verhältnis zur Natur, das mehr umfasst als die CO2-Bilanz.
Ich meine, wir bräuchten es. Ein Verhältnis zur Welt, das mehr ist als ein Planspiel, ein Rechenmodell. Ein Ausklammern. Ein Modus des Rechthabens. Denn das Rechthaben im Namen des Guten, das angeblich alle wollen, führt in dieser Welt zu den schlimmsten und nachhaltigsten Verwerfungen. Und zu den meisten Opfern, über die niemand spricht. Zum Verlust von Dingen, die wir nie wieder bekommen.
[1] Damit ist die traditionelle, nomadische Kultur der Beduinen gemeint. In der Negev existieren heute einige Siedlungen von Beduinen, zugewiesene und illegale.