Während meines Studiums nahm ich an einem soziologischen Projekt mit der Uni Hannover teil. Ich studierte damals in Leipzig. Die Mauer war gerade gefallen und so erlebte ich es als aufregend und verheißungsvoll, „in den Westen“ zu kommen und dort andere junge Menschen kennenzulernen. Es warteten viele schöne Begegnungen auf mich, für die ich bis heute dankbar bin und an die ich oft zurückdenke. Ich fand in die ersten freundschaftlichen Beziehungen zu Kommilitonen aus der alten Bundesrepublik, die mir ihre Welt bereitwillig aufschlossen und ich genoss die offene und neugierige Haltung meiner Leipziger Dozenten, die mich einluden, das Universum der Soziologie zu erkunden. Aber hier soll es um etwas anderes gehen.
In Leipzig hatten wir Menschen interviewt, denen man eine eher alternative Lebensweise zuschrieb, um deren politischen Einfluss auf die 1989er Ereignisse zu ermitteln. Die Soziologie hatte sich im Westen viel mit neuen sozialen Bewegungen beschäftigt und nun wollten wir herausfinden, ob in der DDR auch solche Kräfte am Werk waren. Den Bärten und der Kleidung vieler Wende-Aktivisten nach zu urteilen, schien das ja eine heiße Spur zu sein. Unsere Gespräche hatten wir transkribiert und mitgebracht. Und nun sollten sie in einer hermeneutischen Textinterpretation genauer betrachtet werden. Schlussendlich, das war jedenfalls der Vorschlag unserer Hannoveraner Kollegen, sollten die Befragten in Milieus aufgehen, in einer Ordnung der Lebensstile also, die auf das deutsche SINUS-Institut zurückging und die nun von dem Soziologen Michael „Mike“ Vester mit der Theorie des Sozialen Raums des französischen Soziologen Pierre Bourdieu sozusagen verschnitten wurde.
Ich fand das faszinierend, fühlte mich aber nicht ganz wohl dabei. Der soziale Raum sah aus wie eine große Kiste, in der unterschiedlich große Kartoffeln übereinander lagen. Diese Kartoffeln waren beschriftet mit „traditionslos“ oder “konservativ etabliert“ oder „hedonistisch“. Und nun ging es also darum, die Leute, mit denen wir gesprochen hatten, in diese Kartoffeln einzuordnen. Würden sie da je wieder herauskommen, fragte ich mich? Der aufklärerische Spiegel Bourdieus, der den linken Achtundsechzigern gezeigt hatte, dass sie über reichlich Bildungs- und Sozialkapital verfügten und sich somit nicht einbilden sollten, zur Arbeiterklasse zu gehören, wurde ja auf diese Weise zu einer Sortiermaschine. Aus Menschen wurden Zielgruppen, die angeblich einer ganz bestimmten Weltsicht verhaftet waren und mit genau abgestimmten Botschaften versorgt werden mussten. Und wenn es auch einzelnen gelingen mochte, sich aus dem einen Milieu in ein anderes vorzuarbeiten, so hat mich das Determinierende an dieser Herangehensweise doch unangenehm berührt. Damals hätte ich es noch gar nicht so ausdrücken können, aber es war, als würde hier ein zweifelhaftes Herrschaftswissen produziert, das den Leuten den Anspruch auf ihre Freiheit raubte.
Vor allem störte es mich, dass die Befragten keinen Einfluss auf die Verarbeitung der Texte hatten, deren Urheber sie ja letztlich waren. Heute regen sich viele darüber auf, dass die Internetkonzerne intransparent mit unseren Daten umgehen. Die Sozialwissenschaft, wie ich sie hier kennenlernte, hatte damit jedenfalls kein Problem.
In Hannover angekommen, fügten wir uns gern in alle Vorbereitungen unserer Gastgeber. Pausen, Arbeitszeiten, Quartiere, es war an alles gedacht, das freute uns. Als die Hannoveraner später zu uns nach Leipzig kamen, ging es übrigens nicht so reibungslos ab. Jede Vorkehrung, die wir getroffen hatten, wurde infrage gestellt und verbessert. Das kannten wir nicht, aber wir waren gern bereit, alles noch einmal zu ändern, um unsere Gäste zufrieden zu stellen.
Unsere Interviews jedenfalls wurden in gemischten Gruppen aus Leipziger und Hannoveraner Studenten ausgewertet. Ich hatte selbst eines eingebracht und kam bald ins Schwitzen. Denn die hermeneutische Textanalyse, so wie sie hier praktiziert wurde, war eine knallharte Methode, bei der das, was einem die Leute gesagt hatten, seziert wurde wie der Körper eines gefangenen Aliens. Jede argumentative Schwäche, jedes vermeintlich verklärende Selbstbild wurde gnadenlos aufgedeckt. Mir war bald klar, dass ich mich selbst nie für eine solche Form der wissenschaftlichen Analyse zur Verfügung stellen würde. Ich hatte Schuldgefühle gegenüber der jungen Frau, die ich befragt hatte und der nun in der Auswertung nachgewiesen wurde, dass sie sich nur an gegebene kulturelle Muster heranhing und keine eigenen Positionen entwickelte, dass sie also nach den Mustern der Distinktion handelte. Was zu beweisen war.
Herausgefunden hatten wir das aber nicht so ganz gemeinsam, sondern erkannt hatte es zuerst ein Student, der in der Runde eine hohe Autorität besaß. Er hieß Volker, schrieb sich allerdings Volka, und ohne viel zu sagen führte er das Kommando. Die anderen ergriffen immer nur als Vorlage für ihn das Wort, sie ebneten seinen Kommentaren abwartend den Weg. Auch mir flößte „Volka“ Respekt ein. Er war ernst und wirkte überlegen, und obwohl ich als junger Mann die jahrelangen Auseinandersetzungen im Elternhaus noch in den Knochen spürte, war ich bei ihm doch fast bereit, die Lust an der gerade gewonnenen jugendlichen Freiheit preiszugeben und mich in den Sog seiner Autorität zu begeben. Was war da los?
Ich habe oft darüber nachgedacht. Noch mehrfach bin ich später auf dieses Muster gestoßen. In meiner Berliner Zeit lernte ich es in der Hausbesetzerszene und auch als Stipendiat einer Studienstiftung kennen. Immer wieder mal fand ich mich als junger Mensch im Bann einer moralischen Avantgarde wieder. Ohne zwingenden Grund erkannte ich an, dass andere „weiter“ waren als ich selbst. Und dieses „Weiter“ bestand nicht in Weisheit, Liebe oder Beredsamkeit, nicht in bestimmten Fertigkeiten oder Künsten, sondern in einer höheren Konsequenz bei der Verschmelzung von Einsicht und Lebensführung.
Nun kann man aus heutiger Sicht nicht unbedingt behaupten, dass hier etwa Wissen und Handeln in Deckung gebracht wurden. Eher war ein Mechanismus der Distinktion am Werk, Lebensstil verschmolz mit Weltanschauung. Nicht mehr allein die feinen Unterschiede in Kleidung und Stil waren also entscheidend für die soziale Anerkennung. Diese wurden nun ergänzt durch Differenzen in der Beurteilung der Welt. Und die war natürlich sprachlich kodiert. Woher diese Konsequenz bei einigen Akteuren – oder auch nur ihr Anschein – sich speiste, kann ich mir nicht erklären. Ich weiß nur, dass ich mich unterlegen fühlte. Und um die damit verbundene Unsicherheit abzutragen, ertappte ich mich bei kleinen Bekenntnissen. Ich hatte das Bedürfnis, diesen anderen zu zeigen, dass auch ich die Zeichen der Zeit erkannt hatte. Ich spürte einen Eifer in mir, es ihnen recht zu machen, auf eine sonderbare Weise artig zu sein, und mich so auszudrücken, wie sie es zu erwarten schienen. Und weil mich dieses beklemmende Bedürfnis an mir selbst störte, betrieb ich einen recht hohen Aufwand mit meiner inneren Selbstbehauptung. Auch bei anderen habe ich immer wieder eine ähnliche Wirkung dieser moralischen Autoritäten wahrgenommen. Aber für mich konnte das Bemühen um Integrität letztlich nur zum Rückzug aus jenen Kreisen führen. Ich brach den Kontakt zu diesen Leuten ab. So dachte ich, ich könne diese Erfahrung ein für allemal hinter mir lassen. Später fragte ich mich manchmal bang, wie es wohl meinen Kindern einst ergehen würde, etwa auf den Universitäten, wenn ihnen jemand sagen würde, wie sie zu sprechen hätten, wollten sie sich der Aufnahme in die Gruppe würdig erweisen.
Und dann traf ich dieses Muster wieder. In den Sommerschulen, die ich seit 2009 zusammen mit anderen anbiete, um jungen Menschen Arbeitsweisen der Landschaftskommunikation nahe zu bringen, verändert sich seit einigen Jahren die Chemie. Das Klima wird strenger, es wird weniger gelacht. Es gibt immer mehr Diskussionen über das Essen und die Organisation der Pausenzeiten, die mich an die frühen Besuche aus Hannover erinnern. Bevor es zur Sache geht, werden die Rahmenbedingungen infrage gestellt, die Sitzordnung, die Pausen, das Essen. Und ich stoße auf immer mehr junge Menschen, die versuchen, ihren Lebensstil und ihre Meinungen über die Welt in Deckung zu bringen und dafür auf Lösungen zurückgreifen, die ihnen von einer unsichtbaren Autorität vorgegeben werden. Die Wirkung Einzelner scheint dabei an Bedeutung zu verlieren, obwohl natürlich an der Ernährungsweise, anhand der Aufkleber auf den Laptops und in der Sprache die Avantgardisten dieser Kultur leicht auszumachen sind. Hier ist aber, so scheint es mir, ein allgemeiner gesellschaftlicher Sog der Artigkeit am Werk. Er regelt den vorbildlichen Konsum, die angemessene Sprache, die gebotenen politischen Meinungen und das korrekte Sozialverhalten. Die Zahl der Spaßvögel nimmt ab, die Zahl der Aufpasser nimmt zu. Und nicht nur junge Menschen üben sich in diesen bekenntnishaften Formen, auch viele Erwachsene legen sie an den Tag. Es redet keiner mehr frei von der Leber weg. Das Vertrauen, schon die richtigen Worte zu finden, nimmt ab. Die Gefahr der Deklassierung wächst, alle passen auf sich auf. Und unversehens finde ich mich in einem Klima wieder, dem ich vor Jahren meinte, glücklich entkommen zu sein. Es würde mich interessieren, wie die SINUS-Kartoffel heißt, in der diese Mechanismen keimen.
Du siehst Gespenster, höre ich andere. Ich kann nur antworten: Ja, es ist gespenstisch.
Ist das die ganze Geschichte? Bestimmt nicht. Was bei Norbert Elias‘ Zivilisationsprozess noch eine Utopie war, die möglichst gute Steuerung des Verhaltens jedes einzelnen Menschen, das löst sich hier als perfekter Distinktionsmechanismus ein, außer, man lässt alle Rücksichten fahren. Und da sind wir bei den Mustern auf der anderen Seite der Gesellschaft, die sich heute in so manchem Wahlergebnis zu Wort meldet. Wie spinnt man dort die Leute ein, welche Netze sind auf dieser Seite ausgelegt, um die Menschen zu binden?
Ich habe in diesem Feld kaum Erfahrung, schon gar nicht in Gruppen. Ich kenne nur ein paar Leute in meiner Gegend und rede mit ihnen, ich habe nur Anhaltspunkte. Und da würde ich sagen: Was hier die Strenge der Distinktion ist, das ist dort gerade der Kontrollverlust, die kalkulierte und dennoch trunkene kollektive Übertretung. Es beginnt mit der Sprache, es geht los mit einem Hab-dich-nicht-so. Es geht weiter mit einem Lachen, wo nichts komisch ist, beflügelt vielleicht durch ein Bier zu viel. Es mündet in eine Mutprobe: Trau Dich, das zu sagen! Und es geht auf in der schwelgerischen Kollektivität: Du brauchst die Rücksichten der anderen nicht, verlass dich ganz auf die Gruppe und ihren Schutz, dann liegst du richtig.
Aber auf welche dieser beiden Seiten man auch schaut: Wenn die Verantwortung für das eigene Sprechen der Gruppe überantwortet wird, wird aus guten Einsichten eine essentialistische Fessel. Der Sensor für das richtige Wort am rechten Ort liegt irgendwo zwischen Einsamkeit und Kommunikation, er ist wie ein flackerndes Flämmchen, das bei zu starkem Wind verlischt. Ich verstehe nicht viel davon, ich bin kein Ethiker. Aber so empfinde ich es.
Wie dem auch sei, der Erfolg der sogenannten Populisten hat in dieser Entwicklung einen düsteren Grund, so kommt es mir vor. Denn diese machen den Menschen ein Angebot: Sie werden anerkannt, einfach so, ohne das humorlose Korsett der moralischen Distinktion, das ihnen ständige Wachsamkeit und Artigkeit abverlangt. Für all jene, die sich keine Vorteile davon versprechen, dieses Korsett zu tragen, ist dieses Angebot attraktiv.