Der Deckel auf der Regentonne

Vor etwa zehn Jahren hörte ich in Osnabrück den Vortrag eines Mitarbeiters der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), der mich sehr beeindruckte. Die GIZ ist ein Unternehmen, das die Bundesregierung bei Projekten in vielen Teilen der Welt unterstützt. Über diese Arbeit kann ich nichts sagen, hier geht es nur um den Vortrag. Denke ich heute daran, fällt mir auf, wie komisch ich ihn damals fand und wie wenig ich heute noch darüber lachen kann.

Es ging um den Klimawandel. Der Mann beschrieb die Probleme, die durch die Erderwärmung auf die Menschheit zukommen würden, in den schillerndsten Farben: Meeresspiegelanstieg, Verlust von Ökosystemen, invasive Arten, neue Krankheiten. Das war nicht besonders neu, allerdings überraschte die Lust des Herren bei der Schilderung des bevorstehenden Ungemachs. Mit genussvollem Schwung schob er seine Folien über die Leinwand und sang ein apokalyptisches Lied wie in einer bizarren Karaoke-Show. Ich fand das verstörend, aber bald wurde klar, woraus sich diese Freude speiste: Er selbst spielte mit seiner Firma ja eine hervorragende Rolle darin! Er sagte Sätze wie: „Wir bereiten uns jetzt schon darauf vor, da in ganz großem Stil neue Lösungen zu schaffen!“ Und: „In diesen Szenarien werden wir völlig neue Versorgungssysteme bereitstellen!“ Oder: „Das sind Szenarien, in denen wir Millionen von Menschen umsiedeln müssen!“

In dem „wir“ des Mannes war ich nicht mitgemeint, das war klar. Wenn man aber erfährt, dass sich andere um die eigene bedrohte Sicherheit kümmern wollen, schaut man zweimal hin. Mein Eindruck war, dass ich ihm meine Zukunft nicht allzu gern anvertrauen würde. Es klang, als freue er sich zwar über die vielen Aufträge für sein Unternehmen, überschätze allerdings seine Möglichkeiten. Angesichts so gravierender Herausforderungen müsste man doch etwas früher aufstehen, auch intellektuell, dachte ich. Und ich fragte mich natürlich, welche Rolle denn wohl mir und den anderen ganz normalen Mitmenschen in diesen Szenarien zugedacht war. Und siehe da, als hätte es der Mann geahnt, war er auch schon bei genau diesem Thema angekommen: „Sie werden sich nun fragen: Was kann ich, was kann jeder Einzelne tun, um diese Probleme zu lösen? Ja, da gibt es schon einiges! Wie wäre es mal mit einer Zugfahrt anstelle einer Autofahrt? Das spart viel Energie! Wie wäre es damit, einmal in der Woche auf Fleisch zu verzichten? Das ist doch auch was! Wir wäre es damit, die Regentonne im Garten mit einem dichten Deckel zu verschließen, damit sich die gefährliche Asiatische Tigermücke nicht bei uns ausbreiten kann? Jeder kann etwas tun!“

Das fand ich nun wirklich lächerlich. Das Gefälle zwischen absaufenden Millionenstädten und einem fleischlosen Tag in der Woche war doch allzu groß. Es zeugte von einem ganz und gar technokratischen Verständnis unseres Nachhaltigkeitsproblems, als ließe sich dieses mit einer groß angelegten Logistikoperation lösen, mit Containern, Pumpen und Survival-Packs. Wenn man in Not ist, freut man sich sicher über solche Dinge, aber dass mir selbst in diesem Spiel so wenig abverlangt wurde, galt mir als Beweis fehlender Seriosität, und ich ging davon aus, dass man sich mit so einem Denken nicht ernsthaft auseinandersetzen muss. Niemand, der bei Verstand ist, behandelt Millionen, ja Milliarden Menschen im Falle einer tiefen Überlebenskrise als Statisten eines Managements. Die Gesellschaft muss sich doch ändern, das Zusammenleben der Menschen, ihr Metabolismus, die Art der Naturaneignung, all das braucht einen Umbau – und der muss sich entfalten können, indem viele, viele etwas ausprobieren und aus ihren genormten Versorgungserwartungen heraustreten! Denn im Moment haben wir, wenn wir ehrlich sind, keine Ahnung, wie das alles mal wirklich anders gemacht werden soll!

Lass ihn spielen, dachte ich, es kann nicht schaden. Das sehe ich heute anders. Es schadet.

Denn nun bin ich in einem Jahr aufgewacht, in dem eben dieses Denken eine ganze Welt umklammert zu haben scheint. Das hat gar nichts mit dem Mann in Osnabrück zu tun, es ist das herrschende Prinzip geworden: Da wird eine Gefährdung identifiziert und das Management der Gesellschaft obliegt fortan einer Art Katstrophenstab. Die anderen sollen zuhause bleiben und nichts tun, staythefuckinghome – es gibt sogar einen coolen Hashtag dafür. Die Bundesregierung verbreitet Werbespots, indem sie das Herumlungern auf dem Sofa als Kriegsheldentum feiert. Und nicht nur das, man soll das obendrein auch alles gut finden, sonst ist man ein Leugner und verhält sich unsolidarisch. Alle, die etwas zur Differenzierung oder zur kritischen Klärung beitragen wollen, stören nur.

Ist das wirklich die einzige Möglichkeit? Ich kann das nicht glauben, wahrscheinlich habe ich einfach ein anderes Menschenbild. Meine Vorstellung wäre es, die Menschen in einer Krisensituation aufzurufen, mit ihrer Kreativität dazu beizutragen, dass wir trotzdem eine Gesellschaft bleiben können – und darüber eine gute Kommunikation zu organisieren. Dafür müsste man natürlich ein paar kluge Rahmenbedingungen und Qualitätsziele vorgeben, das wäre die Aufgabe der Wissenschaft. Aber dann mal los! Statt immer strengerer Bevölkerungskontrolle und kaum verhohlener Kriegsrhetorik würde ich den Erfindungsgeist der Leute herausfordern: Legt im Schulbetrieb ein besonderes Jahr ein, in dem viel Sport im Freien und Unterricht im Wald und in Parks gemacht werden kann! Spielt draußen Theater, lasst euch etwas einfallen, vielleicht kurze Stücke, die man auch bei drei Grad Minus anschauen kann! Gebt Taxigutscheine für alte Menschen aus, damit sie die S-Bahn nicht nutzen müssen! Spielt hundert kleine Konzerte statt eines großen! Wer hat die besten Infektionsschutzideen für Altenheime? Wer findet heraus, was gut funktioniert? Beteiligt euch, prüft Lösungen, bezieht Verwaltungen und Experten ein, lernt voneinander!

Es gab ein paar Monate im Sommer, da sah es fast so aus, als könnte dieser Pfad doch noch beschritten werden. Aber es war nur ein kurzes Aufflackern, die tausenden Hygienekonzepte gelten nun doch nichts, denn man hat sie weder kritisch diskutiert noch verbessert. Inzwischen wird allgemein kolportiert, dass Schmierinfektionen nicht das Problem sind, aber die Imbisse müssen trotzdem weiterhin Wegwerfplastik verwenden und überall stehen Desinfektionsflaschen in der Gegend herum, als sollten sie beteuern, dass an alles gedacht ist.

Als es nun im Herbst in die zweite Quarantäne ging, hieß es immer wieder, man sei nun klüger und habe viel gelernt. Ich kann das nicht erkennen. Es hat, zumindest in gesellschaftlicher Hinsicht, keinen Lernprozess gegeben. Dass die Kaufhäuser und Kirchen dieses Mal offenbleiben, die Theater und Museen aber schließen müssen, kann mit diesem Lernprozess jedenfalls nicht gemeint sein. Aber es geht hier nicht ums Lamento. Ich sage nur: Das Potenzial der Leute wird nicht genutzt, weil man ein technokratisches Verständnis von der Bewältigung des Problems hat. Man traut den Leuten nichts zu.  Man hält sich für schlau und die Leute für dumm.

Das gilt auch, und da sind wir wieder bei dem Vortrag in Osnabrück, für die Auseinandersetzung mit dem Klimawandel. Statt das Problem an Bürokratien abzugeben und es als zwei-Grad-Ziel zur technischen Zielgröße zu verzwergen, sollte man die ganze Gesellschaft dazu aufrufen, Strategien auszuprobieren, mit denen sich Stoffkreisläufe schließen, Dinge reparieren und das Leben besser organisieren ließe, sodass ein solidarisches Panorama aufscheinen kann. Ich sage nicht, dass ich über dieses Panorama verfüge, denn das ist eine Entwicklungsaufgabe, die mit vielen kleinen Schritten und Ideen gelöst werden muss – wie damals in der industriellen Revolution und am Beginn des bürgerlichen Zeitalters. Alle sind gefragt – und alle brauchen Zuversicht, dass es auch gemeinsam zu schaffen ist. Es wird viele Versuche und sicher auch viel Scheitern brauchen. Aber für diese vielen Versuche braucht es doch uns, uns alle? Es kann doch nicht damit getan sein, dass die jungen Leute am Freitag demonstrieren gehen, und dann Delegierte von ihnen nach Davos, zu Anne Will oder ins Kanzleramt gelassen werden. Lasst sie doch etwas ändern, fordert sie heraus!

Aber nein, wir sollen nichts ändern und auch nichts ausprobieren, wir sollen abwarten und andere machen lassen. Wir sollen zuhause bleiben, die Glotze anmachen und uns versorgen lassen. Man könnte ja bei Amazon Smile bestellen, das hilft auch schon etwas. Wir sollen uns bekennen, dass wir alle Maßnahmen unterstützen, aber sonst alles so lassen, wie es ist, damit die Lieferketten nicht unterbrochen werden, ach und natürlich: Arbeiten gehen sollen wir auch. Es muss ja irgendwie weitergehen, wie gehabt. Was hatten wir doch für ein schönes Leben und das werden wir auch zurückbekommen, wenn man für uns alles wieder gerichtet haben wird. Versprochen.

In den letzten Monaten wurde oft lamentiert, die sogenannten totalitären Systeme würden mit so einer Krise doch viel besser zurechtkommen als unsere Demokratien. Sieht man einmal davon ab, dass diese Zuweisungen recht platt und selbstgefällig daherkommen, steckt doch eine Wahrheit in diesem Satz: Unsere Demokratien scheinen die Gesellschaften, in denen einfacher durchregiert werden kann, sehr zu beneiden. Man hätte es auch gern so einfach wie die da, und man versucht, sie wenigstens ein bisschen nachzuahmen. Aber das kann nicht gutgehen, denn das Durchregieren können die anderen besser. In Europa macht das Durchregieren Scherereien, früher oder später. Wir hatten da eigentlich ein anderes Programm, das in der Chance auf kritische Mitwirkung aller Menschen bestand und in der Überzeugung fußte, dass der Weg der Freiheit auf jeden Fall zu besseren Ergebnissen führt. Wer glaubt noch daran?

Also, ich schon.

25. November 2020