Krieg und Frieden

Entlassungsschein aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft, April 1949

Wir sollten froh sein, dass wir im Frieden aufwachsen. Mehr Totschlagargument gab es in meiner Kindheit nicht. Und auch wenn nachts Panzerkolonnen durch die Wälder krochen, Atomsprengköpfe auf unseren Sandkasten zielten, Kampfjets über den Kartoffelacker donnerten – den Großeltern konnte man in dieser Sache nicht widersprechen. Denn mit Krieg kannten sie sich aus.

Wo damals in Beeskow, der Kreisstadt, die sowjetische Kaserne war, ist heute das Landratsamt. Vor ihm weht seit März neben Schwarz-Rot-Gold und dem europäischen Sternenkranz auch eine ukrainische Fahne. Wie auch am Rathaus. Wie lang wird sie dort hängen? Wird man sie austauschen müssen, wenn sie fadenscheinig wird oder von der Sommersonne ausgeblichen ist? Wie lang wird der Krieg dauern? Und wann ist er vorbei?

Wenn kein Schuss mehr fällt, keine Granate mehr krepiert – wie lang dauert es dann noch bis Frieden ist? Bis alle wieder zuhause sind? Bis alle friedlich schlafen können? Bis die letzten Toten vergessen sind? Wie werden wir merken, dass nicht länger Krieg ist?

+ 1 Tag
Die Großeltern werden am 8.Mai 1945 nicht vom Kriegsende erfahren haben. Meine Großmutter lag an diesem Tag im Delirium. Sie hatte sich, als sie in tagelangen Fußmärschen aus dem unmittelbaren Frontgebiet evakuiert wurde, mit Flecktyphus infiziert. Mein Großvater hat vom Kriegsende frühesten am 9. Mai erfahren. Vielleicht haben die Wachen Salut geschossen. Im Gefangenlager, wo er noch weitere vier Jahre blieb.

+ 4 Jahre
Kürzlich hatte ich seinen Entlassungsschein in der Hand. Ein handtellergroßes Stück weiches Papier. Ein Stempel. Willy ist ein komischer Name. Erst recht, wenn man ihn mit kyrillischen Buchstaben schreibt. Er hat mir erzählt, wie er zurückkam. Vom Ostbahnhof in Berlin hat er die S-Bahn nach Königs-Wusterhausen genommen. Und dann die Bahn in Richtung Grunow. Ich kenne die Strecke gut – ich sitze gerade im Zug. In Glienicke mussten damals alle aussteigen, in den kleinen Grund hinabklettern und auf der anderen Seite hinaufkrauchen, um den Zug zu erreichen, der auf der anderen Seite des gesprengten Eisenbahnviadukts wartete. Und dann stand Willy wieder auf dem kleinen sandigen Bahnsteig von Lindenberg, von dem er sieben Jahre zuvor aufgebrochen war. In einen Krieg, der nicht seiner war. Aber er war zurückgekommen. Wie schon sein Vater einen Krieg zuvor. Abgewetzt, mager. Aber mit zwei Füßen und zwei Händen und einem klaren Kopf. Mir erschien dieser Bahnsteig deshalb immer als ein verwunschener Ort. Einer, zu dem man mit heilen Knochen zurückkommt, selbst wenn man in ein Inferno geschickt wird. Daran wollte ich gern glauben. Inzwischen ist das Bahnhofsgebäude verkauft, der Bahnsteig um fünfhundert Meter verlegt und normgerecht gepflastert. Ich bin mir nicht sicher, ob der Zauber noch wirkt.

+ 40 Jahre
Es muss irgendwann in der Mitte der 1980er Jahre gewesen sein, als meine Großmutter davon erzählte, dass mit den Kartoffeln wohl auch unbemerkt eine Handgranate geerntet worden war. Auf dem Förderband der neuen Kartoffelsortieranlage, wo sie arbeitete, ging sie hoch. Jemand wurde wohl verletzt – ich weiß nicht, ob schwer. Wenn jetzt noch jemand verletzt wurde, dann war der Krieg in diesen Herbstferien nicht vorbei. Er war nah, konkret, greifbar. So greifbar wie die Stahlhelme auf schlichten Holzkreuzen, die verschämt am Rand mancher Friedhöfe auf den Dörfern standen. Ohne Namen. Stahlhelme geformt wie jene der Faschisten im Film. Hob man die Helme an, waren sie verblüffend leicht und fragil – der Rost hatte schon ziemlich an ihnen genagt. Anfang der 1990er Jahre wurden die Helme geklaut, die Gräber umgebettet. Es schämte sich niemand mehr wegen der Faschistenhelme. Die Kriegerdenkmäler auf den Dörfern wurden restauriert und manchen trugen plötzlich einen Adler. Oder ein Eisernes Kreuz.

+ 60 Jahre
Als meine Großmutter am Ende allein auf dem stillen Hof wohnte, sah sie immer weniger, was sie vor Augen hatte und immer öfter, was sie mit dreizehn Jahren erlebt hatte. Einmal saßen wir am blitzsauberen Küchentisch und sie meinte, Ungeziefer zu sehen. Sie nahm die Familienfotos von der Wand und sagte, die Front wäre schon nah, nur das nötigste könne man mitnehmen. Diese Angst konnte ihr keiner nehmen.

+100 Jahre
Das Lindenberger Kriegerdenkmal ist kein Obelisk, der sich streckt. Es ist eine kreisrunde Feldsteinmauer, die etwas eingetieft auf dem Dorfanger steht. Durch eine kleine Pforte tritt man in den Kreis der Namen derer, für die der Trick mit dem verzauberten Bahnsteig nicht funktioniert hat. Dass dort unter den Toten des ersten Krieges der Name meines Großvaters, der ja den zweiten Krieg überlebt hatte, stand, hat mich als Kind irritiert. Weil ich ahnte, dass es dazu keine gute Geschichte zu erzählen gab, fragte ich nicht nach und erfuhr erst spät, dass mein Großvater selbst eine Art Gedenkstein war – benannt nach Willy, seines Vaters jüngerem Bruder. Musketier. Gefallen 1916, als die Schlacht an der Somme schon geschlagen war. Er ist keine 19 Jahre alt geworden. Als der erste Krieg hundert Jahre vorüber war, hab ich diesen Willy besucht. In Nordfrankreich – flaches Land, weite Felder, Silos. Der Friedhof, ein kleiner Eichenhain, auf dem nur deutsche Soldaten liegen, ist sorgfältig gepflegt. Der Rasen kurz, wenn auch vertrocknet. Ein Schild warnte auf Französisch, Englisch und Deutsch vor der Gefahr, die vom Eichenprozessionsspinner ausgeht. In den Hochbeeten liegen die Fetzen von tausenden Gefallenen, meist namenlos. Und dann gibt es für jene, deren Körper noch halbwegs beisammen waren, Kreuze – eines für jeweils vier Soldaten. Aber wer von ihnen ist unvergessen? Ich frage mich, wie lang man einen solchen Friedhof pflegen wird, wo doch die Gräber in den Dörfern, aus denen diese Männer kamen, heute schon nach 25 Jahren aufgelöst werden.

Seit Willy im Schlamm an der Somme gestorben ist, ist zweimal die Scheune abgebrannt, wurden Ernten abgeliefert, wurde ein zweiter Krieg geführt, wurden Flüchtlinge einquartiert, wurde ein Traktor gekauft, wurden die Felder kollektiviert, wurde das Haus ausgebaut und letztlich der Hof verkauft. Hundert Jahre Plackerei. Dreieinhalb Generationen. Willy war nicht dabei. Ich bin der erste aus der Familie, der ihn hier in Frankreich besuchte. Und wahrscheinlich wird es bei diesem einen Besuch bleiben.

Von Willys Grab bis zum Bier am Boulevard de Belleville in Paris hab ich mit dem Auto keine Stunde gebraucht. Ich hab dort einen niederländischen Freund getroffen, mit dem ich mich für ein paar Tage in der Wohnung eines gemeinsamen Kollegen einquartiert hatte. Als ich von Willy erzählte, war es die tragische Geschichte eines sehr jungen Mannes, dem man das Leben – also alles, was noch vor ihm lag – genommen hatte. Eine Geschichte, die traurig ist und Mitleid weckt. Aber keinen Wunsch nach Revanche oder Hass. Nach hundert Jahren ist Willy beinahe vergessen und niemand hat mehr eine Rechnung offen.

Nach dem letzten Schuss ist der Krieg nicht vorbei. Es braucht Zeit, wieder einen eigenen Ort zu finden. Nach dem letzten Schuss kommen vierzig Jahre Verletzung und Tod, sechzig Jahre Angst. Erst wenn die vergessen sind, denen wir gedenken möchten, ist es vorbei. Es dauert hundert Jahre bis Frieden ist. Das macht ihn so wertvoll.

24. August 2022