Pappeln werden gemocht

Unser Garten gliedert sich in mehrere Teile. Unsere Freunde haben ihnen Namen gegeben: England, Frankreich, Ukraine und Afghanistan. „England“ heißt die Gegend, die der Rasensprenger erreicht. Den Namen „Frankreich“ bekam die Ecke vor dem Scheunengiebel, an der sich Wein emporrankelt. Wenn das Wetter gut ist, stehen hier Gartenmöbel im Schatten, und es finden Dinge statt, die wir alle nett finden. Die Kinder toben lassen, sich ein Weißweinwölkchen antrinken. Ein paar Beete haben wir auch, aber die Funktion des Nutzgartens ist untergeordnet. Wer sich von unseren paar Salatköpfen ernähren wollte, würde verhungern, – und das sehr schnell. Ein häufiger und lieber Gast, nennt unseren Garten „Natur“. Er ist jedes Mal begeistert von deren Wirkung auf Geist und Sinne. Den hinteren Teil unseres Gartens haben unsere Freunde „Ukraine“ genannt. Es war vor dem Krieg, und sie hatten wohl weniger die Vorstellung eines Schlachtfelds als die einer Grassteppe. Herr J., der unseren Garten vor uns bewirtschaftete, hatte auf dieser Fläche seine Kartoffeln angebaut. Wir mähen dort, ­– wenn wir es schaffen.

Hinter der Ukraine liegt „Afghanistan“. „Afghanistan“ trennt das Dorf von den Äckern der Landwirte und gehört eigentlich gar nicht zu unserem Garten. In den fünfziger Jahren war hier eine Brache ehemaliger Stallungen. Man tat mit dieser Brache das, was man früher oft mit Brachen tat: Man bepflanzte sie mit Pappeln. Inzwischen waren diese Pappeln alt und brüchig geworden, etliche waren abgeknickt, was den Eindruck einer Mondlandschaft erweckte. Zwar ist dies weder nett noch korrekt gegenüber Afghanistan, – aber wegen dieses Eindrucks bekam das Pappelwäldchen den Namen „Afghanistan“. Im letzten Herbst hatte ein Sturm mehrere dieser Pappeln umgeschlagen. Ich war froh, dass ich unser Auto rechtzeitig umgeparkt hatte, denn dort, wo es sonst stand, lag jetzt der Hauptast einer Eiche, in die eine der Pappeln hineingekracht war. Schließlich waren wir alle erleichtert, als die Brache einen neuen Besitzer fand, der die Pappeln beherzt fällte. 

Die Pappel war, weil sie so bedürfnislos ist und so schnell wächst, der deutsche Baum der Nachkriegsjahre. Die Leute brauchten Holz zum Heizen und Bauen – und das lieferte die Pappel ihnen. Weil Pappeln aber auch schnell brüchig werden, muss man das Holz bald ernten. 

Nach spätestens vierzig Jahren sind die meisten Pappeln von innen heraus verrottet. Dann steht der Baum zwar noch propper da, ist aber hohl wie eine leere Nuss und stürzt beim nächsten Windstoß um. Diejenigen, die früher Pappeln auf Brachen pflanzten, wussten das natürlich. Allerdings rechneten sie nicht damit, dass fünfzig bis siebzig Jahre nach ihrer Zeit eine Generation herangewachsen sein würde, der dieses Wissen komplett abhanden gekommen sein würde. 

Das Wort „komplett“ ist natürlich eine Übertreibung. Gärtner und Baumpfleger wissen über die Eigenschaften von Pappeln gut Bescheid. Aber viel öfter melden sich zum Thema Pappeln ganz andere Menschen zu Wort. Kurze Zeit, nachdem Afghanistan gerodet worden war, begegnete mir auf Facebook ein Post, der von Pappeln handelte. Ich las ihn, – vielleicht, weil mir die Folgen des Sturms im Pappelwäldchen noch gegenwärtig waren. Der Hauptast unserer Eiche nämlich hatte noch ein Vierteljahr lang in unserem Garten gelegen. So ein Ast ist gewaltig. Man sieht es erst, wenn er vor einem liegt. Man braucht eine Motorsäge und die Hilfe der Nachbarn. Und wenn alles geschafft ist, weiß man ein bisschen besser, dass Bäume wundervoll sind, – aber auch, wie viel Mühe sie machen.

Der Facebook Post handelte von einer Pappelreihe in Berlin, mit der man nach dem Krieg den Rand einer Bombenlücke bepflanzt hatte. Der Ort dient heute als Sportplatz einer Schule, und der Bezirk hatte gerade beschlossen, die Pappeln fällen zu lassen. Der Autor des Posts fühlte darüber Trauer und Wut. Immer wieder kommt es in Berlin in den letzten zehn Jahren zu Pappelprotesten. Seit den Nachkriegsjahren sind eben siebzig Jahre vergangen, und die Bezirksämter tun das längst Überfällige. „Siebzig Jahre“, schrieb der Autor in seinem Facebook-Post, hätten die Pappeln gebraucht, um zu wachsen. Ein Tag habe genügt, ihr Leben zu beenden. Verloren sei: der kühlende Schatten, die Eichhörnchen, der positive Einfluss auf Klimawandel und CO2-Bilanz. Das Stück Natur in der Stadt. Das Argument des Bezirksamts – Gefahr durch Astbruch, immerhin seien es Kinder, die auf diesem Sportplatz Fußball kickten – ließ er nicht gelten. Die Gestrigen vom Amt seien – einmal mehr – blind, taub und verantwortungslos in Sachen Anpassung an den Klimawandel und Change. Der Text bekam viele Likes. Es folgten mehrere Kommentare, die zustimmten, einstimmten, auf ähnliche Art argumentierten und ähnliche Beispiele brachten. Alle bekamen viele Likes. Ganz am Ende meldete sich jemand zu Wort, der viel über Pappeln erklärte. Er beschrieb, welche Pappelarten es gibt und wo sie beheimatet sind. Weshalb Pappeln angepflanzt wurden und werden – als Rohstofflieferant, als Alleskönner in den schlechten Zeiten. Er erklärte auch, dass Pappelholz – wie gesagt –, sehr schnell brüchig wird, weshalb siebzigjährige Pappeln nicht mehr standsicher seien. Er kam zu dem Schluss, dass es viel besser sei, die Chance zu ergreifen und neue Bäume zu pflanzen, die besser für den Ort geeignet seien. Denn Pappeln entzögen, weil sie ursprünglich an Flussauen wuchsen, dem Boden viel Wasser. In Zeiten zunehmender Trockenheit seien Pappeln als Stadtbäume daher vielleicht eher kontraproduktiv. 

Dieser Beitrag wurde nicht gemocht. Er bekam keine Likes. Ein paar Leser nannten den Verfasser einen Klimafeind. Als ich den Post später nochmal suchte, um diesen Text hier zu schreiben, war er verschwunden. 

Die Natur wird gemocht, soviel ist klar. Aber irgendetwas scheint mit unserem Verhältnis zu ihr schief zu liegen. Vor einer Weile habe ich ein Interview mit einer Insektenexpertin geführt. Sie gibt oft Workshops an Schulen, um Kindern Insektenwissen nahezubringen. Sie erzählte mir, dass Berliner Kinder – ohne Übertreibung – Fliegen und Käfer nicht auseinanderhalten könnten. Dass Kinder Wanzen als Mücken bezeichneten – und umgekehrt. Diese Kinder hätten in ihrem Alltag schlichtweg kaum Berührung mit Insekten. Selbst Marienkäfer seien nicht mehr allgemein bekannt. 

Bei Kindern von umweltbewussten, engagierten Eltern sieht das Ganze anders aus, – aber nicht besser. Sie mögen Wildbienen und bauen Insektenhotels. Sie wissen, dass Glyphosat der Feind der Bienen ist und würden sehr viel dafür tun, um das Glyphosat zu vernichten oder mit einem Zauber zu bannen, denn dann würde die Welt wieder gut werden. Sie würden dafür sogar hungern. Aber jenseits der Publikumslieblinge Bienen und Wildbienen kennen auch diese Kinder nur drei Schmetterlingsarten und wissen nicht, wie ein Kartoffelkäfer aussieht.  Wenn sie einem begegnen, würden sie versuchen, ihn zu retten und ihn dazu mit Haferkeksen zu füttern. 

Ich bin gar nicht sicher, ob Herr J., der vor uns unseren Garten bestellte, alle Tiere und Pflanzen mit Namen benennen konnte. Aber er lebte von ihnen und mit ihnen und hatte daher eine Menge praktisches Wissen über sie. Er wusste, wie Kartoffelkäfer aussehen und er wusste sehr gut, was sie fressen. Er kannte die Stellen im Wald, wo man Pfifferlinge und Krause Glucken findet. Auch Pappeln zu fällen, bevor sie in irgendetwas hineinkrachen, hatte er drauf. 

Heute kommen Liebe und Engagement für die Natur auf merkwürdige Art mit völligem Unverständnis der Natur zusammen. Dabei würde ich behaupten, dass das Unverständnis nicht trotz der engagierten Haltung so groß ist, sondern wegen ihr. Der Modus des Engagiertseins bestimmt mehr und mehr unsere Welt, unsere Verständigung und Wahrnehmung. Und das ist ein Problem. Ich bin darüber ins Grübeln geraten, als ich die Facebook-Posts über die Pappeln las, die alle – bis auf einen – in einer Sprechart der engagierten Rede verfasst waren. Und die zugleich völlig hermetisch waren, unzugänglich vor allem gerade auch gegenüber Wissensvermittlung über die „Natur“. 

Die engagierte Rede führte früher ein Schlag von Leuten, die eine Minderheit waren. Politisch Bewegte, Bürgerinitiativen. Bei waren mir es die achtziger Jahre, in denen ich mit ihnen in Berührung kam, damals war ich noch ein Kind. Ich fand sie toll und hatte großen Respekt vor ihnen. Es gab nicht so viele von ihnen, und man hatte das Gefühl, dass sie große Opfer bringen für Dinge von übergeordnetem Wert. Inzwischen begegnen mir dauernd Engagierte, und die Sache ist mir verdächtig geworden. Ohne gesellschaftliches Engagement für Dinge, die einen bestimmten Beliebtheitsgrad haben, ist es schwer, überhaupt manche Jobs zu kriegen. Auch die engagierte Rede ist omnipräsent. 

Gemeinsam ist engagiert Sprechenden, dass sie nicht reden, um etwas mitzuteilen, worüber sie nun einmal gut Bescheid wissen – etwa, weil sie Wissenschaftler sind und auf einer Konferenz sprechen oder weil sie etwas übermitteln wollen, das praktisch gebraucht wird. Im Vordergrund steht vielmehr, dass sie ein Anliegen haben. Früher wie heute geht es dabei oft darum, eine bessere Welt zu schaffen. Heute spricht man lieber von „Change“. Ziemlich häufig liegen die Sujets weit weg von den Sprechenden, – beispielsweise reden Leute vom Krieg, die Krieg in ihrem Leben noch nie gesehen haben. Oder Menschen reden von Windkraft, die von Technik überhaupt keine Ahnung haben und sich auch nicht dafür interessieren. Schon die Sprache der Engagierten der Achtziger Jahre hat die Like-Begriffe von heute vorweggenommen. Schluss jetzt mit – Wettrüsten, Plastik und Atomstrom. Wir wollen Friedenstauben, Jute und Solarpanele. Dabei war klar, dass der Vorteil an Friedenstauben, Jute oder Solarpanelen keiner Erklärung bedurfte. Die Begriffe galten einfach als gut. Sie waren wichtig, um sich abzugrenzen gegen die Welt des Bösen. Vielleicht hatten manche die Vorstellung, unsere Welt sei so heillos schlecht, dass man nur noch mit einer Art Reich des Guten gegen dieses Verloren sein ankommen könnte. Es war ja auch die Zeit, als die Phantasiebegeisterung aufkam. Vielleicht war es zu Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Sprache der damaligen politischen Linken nicht anders. Aber mein Eindruck ist, dass deren Begriffe näher an denen waren, die den Kopf für sie hinhielten. Die Achtzigerjahre Friedenstaube war dagegen reiner Wohlfühlpop. Auf Sticker gedruckt und an Jutebeutel gesteckt, getragen von Jugendlichen, die in ihrer wirklichen Welt damit beschäftigt waren, zu pubertieren. 

Seit den Achtziger Jahren ist viel passiert. Die Welt von damals gleicht, von heute aus betrachtet, einem fossilen Zeitalter. Ich glaube aber, die Entwicklung hin zu einem allgemeinen Modus des Engagiertseins – gegen etwas nicht Fassbares, das uns nicht in Ordnung erscheint – hatte damals ihren Kern und schreitet weiter voran. Vielleicht ist es schlicht die Entfremdung von der Natur. Die engagierte Sprache ist derweilen so alles beherrschend geworden, dass sie den meisten Leuten, mich eingeschlossen, schon gar nicht mehr auffällt. Indem sie von den alternativen Zeitungen und Flugblättern in die Sozialen Medien gewandert ist, ist sie von einer Randerscheinung zur dominanten Art und Weise des Sprechens geworden. Zugleich hat sie eine neue Argumentationsstruktur hervorgebracht, die man auch an den Pappel-Facebook-Posts gut ablesen kann. Statt herleitender Argumentationen, die ergründen wollen, woher Dinge kommen, wie sie zueinander in Beziehung stehen und was man daraus lernen könnte, finden wir verkettende Argumentationen, die Begriffe, die gemocht werden, mit anderen Begriffen verknüpfen, die gemocht werden. Beispielsweise Pappel/Natur in der Stadt/Klimawandel/Change. Weil diese Ketten wiederum nicht für sich stehen, sondern im Resonanzraum erkannt und nach vorn gebracht werden, entsteht eine solche Präsenz bestimmter Verknüpfungen, dass andere entweder gar nicht mehr wahrgenommen oder als Störung empfunden und heftig abgelehnt werden. Autoren sind darauf angewiesen, gehört zu werden. Daher vermeiden sie ungewohnte Verkettungen. Auf diese Weise werden jegliche Zusammenhänge schlicht unkommunizierbar, die nicht beliebt sind, nicht ins Bild passen, den Rezipienten anstrengen oder ihm neu sind. Zum Beispiel, weshalb Pappeln gefällt werden müssten, dass es noch andere Insekten als Wildbienen gibt, dass diese nicht in Hotels wohnen wollen, die wir ihnen bauen, oder dass ein Vervielfachen der Flächen, die Wind- und Solarparks einnehmen, auch zu Lasten von Naturräumen gehen könnten.

Eine traurige Nachricht dabei ist, dass, je relevanter ein Thema erscheint und je öfter darüber kommuniziert wird, es desto schwieriger wird, Botschaften zu verbreiten, die nicht extrem unterkomplex sind. Der Zustand Natur ist ein relevantes Thema. Insofern reden viele darüber, – was wiederum dazu führt, dass eine Verständigung über sie unmöglich wird. Und das ist schade. Denn so vieles – ja fast alles – wäre ja nun eigentlich erklärungsbedürftig. Nur eins bleibt unstrittig: Die Natur wird gemocht. 

Um die Sache abzurunden: Wir sind mittendrin. Wer seinen Garten „England“ und „Frankreich“ nennt und ihn liebt, weil er so schön romantisch ist – mit den Holzgartenmöbeln und dem niedlichen Bauwagen –, wer das Ganze „Natur“ nennt, nur weil es grün ist, der ist vom Kitsch der Wildbienenretter mit ihren Insektenhotels nur eine Handbreit entfernt. Ich brauche, um mir auf die Schliche zu kommen, mich im Geiste nur mit Herrn J. zu unterhalten. Er hätte seinen Garten nie als „Natur“ bezeichnet. Das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Er bewirtschaftete ihn ja. Aber auch den Wald mit den Pfifferlingen oder den See, wo es Krebse gibt, nannte Herr J. nicht Natur. Er führte dieses Wort überhaupt nicht im Mund. Vielleicht fängt es ja damit schon an. Einen Garten nur mit Gras zu bepflanzen, wenn man noch nicht einmal Tiere hält, wäre ihm absurd vorgekommen. Pappeln zu retten, auch. 

26. August 2022