Lob des Grashalms

Türkis schimmern die Kuppeln in der flirrenden Hitze. Es locken die Zauberworte Samarkand, Buchara, Chiwa – Seidenstraße und Tausendundeine Nacht. Bilder steigen auf von monumentalen Mauern der Moscheen und Medressen, die gepriesenen Reiseziele Usbekistans. 

Aber wer schleppte den Lehm für den Registan heran und knetete ihn sorgfältig? Womit sind diese vielen Ziegel gebrannt? Acht Stunden bei einer Temperatur von 1.200 Grad, wenn sie glasiert sein sollten. Mindestens 350 Grad für die sandgelben Mauersteine. Mit welchem Brennmaterial? Wer schaffte es herbei? Von welchen Bäumen? Angesichts der kargen Steppe. Davon berichten keine Hochglanzbroschüren, darüber schrieb uns auch Babur, der dichtende Herrscher, nichts. 

Dem Registan ist nichts hinzuzufügen außer einer hingebungsvollen Bewunderung. Vielleicht trieb uns diese Einsicht zu anderen Reisezielen. Vielleicht war es aber auch eine unbestimmte Sehnsucht nach dem, was in Deutschland fehlt. Ach, Deutschland, es ist geradezu unverschämt grün und reich, gesegnet mit sechshundert Millimeter Niederschlag und mehr, gleichmäßig verteilt über das ganze Jahr. Kleinteilig besiedelt mit Dörfern und Städten zwischen ausgedehnten Wäldern und Feldern. 

Aber es gibt in Deutschland kleine braune Steppeninseln. Mit dreihundert Millimetern Regen im Jahr und abnehmender Tendenz. Dort brüten die großen Felder in der Sommerhitze und der Mais verdorrt immer häufiger schon am Stängel. Solche Inseln liegen auch in Brandenburg, einer Landschaft so groß wie das Ferghana-Tal. Sie legen sich wie ein Ring um die Metropole Berlin; auch im Fläming eine Autostunde südlich unserer Wahlheimat, der Landeshauptstadt Potsdam. Beim nächsten Regen sind die warnenden Worte vor der Versteppung von Teilen Brandenburgs schon wieder vergessen. Viele Stimmen gibt es dort sowieso nicht, die meisten Deutschen wohnen in Städten oder suburbanen Räumen.

Wie dem auch sei, meine Tochter und ich beluden die Rucksäcke mit Zelt, Matte und Schlafsack. Es ging zur Erkundung von Wüste, Halbwüste und Steppe Usbekistans, die siebzig Prozent seiner Landesfläche ausmachen. Als Reisezeit wählten wir den September, die Sommerhitze ist erträglichen Temperaturen gewichen. Es herrscht Trockenzeit, seit Mai hat es vielerorts nicht mehr geregnet. Durchschnittlich etwa 150 Milliliter Wasser gibt es pro Jahr am Fuße des Nuratau-Gebirges (Nurota-Tizmasi) und seinen nördlichen Ausläufern in der Hungersteppe am Tuzkan- und Aydarsee. Es ist der südöstliche Rand der Wüste Kysylkum, einer Wüste, halb so groß wie Deutschland.

Einen Satz aus einer Landeskunde nahmen wir wie Schulwissen mit auf die Reise: Es gebe in Usbekistan dreitausend Grassorten und der größte Teil der Wüsten Usbekistans ist mit Gras bedeckt. Bis wir mit unseren Rucksäcken mitten in einem Staubteufel stehen, blind von den schmerzenden Sandkörnern. Das war irgendwo in der Hungersteppe auf einem breiten Fahrweg. Wir rieben uns den Sand aus den Augen und begannen die Grashalme genauer zu beobachten. Sie sind allesamt trocken. Mal ganz kurz, mal etwas länger. Mal vereinzelt, mal in Büscheln. Mitunter liegen die Halme einfach da, abgefressen und liegengelassen. Das Kleine wird mitunter verachtet, denken wir. Vielleicht ist es das Wichtigste? 

Grashalm – Wasser – Mensch

Der Grashalm ist der Pionier des Lebens in der Wüste. Ein Jeder von ihnen schafft und hält ein winziges bisschen fruchtbare Krume. Die Abwesenheit von anderem ändert unseren Blick auf die Grashalme um uns. Manche Halme sind hart wie ein Stab, andere seidenweich, ihre Farbe ist mal weißlich, gräulich, mitunter bläulich-rot. Und wie lang manche ihrer Wurzeln sind! 

Wenn im September die Sonne morgens um halb sieben aufgeht, sind die Halme unter uns noch feucht. Aus der warmen Luft des gestrigen Abends haben die Gräser an ihren Stängeln und Lanzett-Blättern Feuchtigkeit gesammelt – winzige Tropfen oder genauer noch weniger als ein Tropfen – einfach ein Wunder. So kommt die Hungersteppe durch sechs Monate ohne Regen. Und wir sitzen morgens im Nassen und bewundern den Sonnenaufgang an Tuzkan- und Aydarsee.

Im Schutz des Grases hat der Kameldorn [Mannastrauch] Wurzeln geschlagen. Er ist noch jetzt im September graugrün und fast kniehoch. Die Schafe, Ziegen und erst recht die Rinder und Kühe verschmähen ihn. Sie werden sich umsehen, was ihnen im Winter bevorsteht: Dann wird er ihnen als getrocknetes Winterfutter serviert mit seinen Dornen an den harten Stängeln. Die Hirten ernten ihn gerade mit Hacken, trocknen ihn auf Haufen. 

Die Wüste lebt. Zuerst kommen die Gräser, dann der Kameldorn, begleitet von anderen Pflanzen wie etwa den auffälligen schönen Silberdisteln. Sie alle locken nicht nur die kleinen Bläulinge, sondern auch die bunten großen Schmetterlinge herbei. Es folgen die ersten Bäume: Sauxbaum etwa und Tamariske. Auch sie fangen mit ihren schuppigen, feingegliederten Blättern den Tau des Sommerabends auf. In ihrem Schatten ist es sogar mittags erträglich, wenn die Sonne mit fast dreißig Grad vom Himmel sticht. Und zwischen ihnen gedeihen wieder Gräser, die Feuchtigkeit sammeln und den Wurzeln der Bäume helfen. So hängt das Große am Kleinen und erhält das Kleine vom Großen Schutz. 

Ein strahlender Septembertag reiht sich an den nächsten. Heute sind wieder drei Herden über das kleine Gebirge, Ausläufer des Nuratau, hinüber zum Wasser des Tuzkansees gekommen, dessen leicht salziges Nass ihnen nichts ausmacht. Aber fressen die Schafe und Ziegen nicht zu viel Gras? So dass der Wind die Bodenkrume wegträgt und kein Tropfen Nass ihm bleibt? 

Es sind mitunter bis zu fünfzig Tiere je Herde. Und sie kommen jeden Tag wieder, ebenso wie kleinere Tiergruppen von Rindern und Kühen, die ihren Weg kennen und völlig selbständig ihre tägliche Bahn ziehen. Wir betrachten mit Sorge die breiten Tierpfade, auf denen kein Gras mehr wächst. Hie und da erkennen wir schon erste Wühlmauslöcher und wissen, dass die Leibspeise dieser Tiere die schwächlichen, ausgedünnten Wurzeln von Gräsern sind. “Dort geht unser Fleisch“, sagte uns ein Einheimischer und zeigt stolz auf die wandernden Herden. 

Wir aber fragen nach dem Zusammenhang von Wasser, Grashalm und Herden. Ein Rentner aus Uchum im Nuratau hat viele Jahrzehnte in der Nationalparkverwaltung gearbeitet und sagt bestimmt: „Es gab mehr Wasser hier zu Sowjetzeiten.“ „Es sind zu viele Herden, zu viele Tiere.“ – Wir sehen das junge Mädchen die Gartentür öffnen und die Schafe und Ziegen vom eigenen Hof mit dem Stock hinausjagen. Auch hier ist das Gras kurzgefressen, aber immerhin noch grün unter den Wallnuss- und Apfelbäumen. Draußen in den Bergen sind die vertrockneten Grashalme. Überall in den Flusstälern des Nuratau sind ähnliche Höfe. Auf jedem Hof ein paar Tiere. Potentielle Graskiller? Nein, die Lebensgrundlage der hier lebenden Menschen. 

Die Hirten sind schweigsame Menschen und sie sind sehr beschäftigt. Ihr Pfeifen, Rufen und Schimpfen klingt herüber. Kein Tier darf verlorengehen, nicht im Gebirge und auch nicht unten am See. Im Schilf des Tuzkansees verschwinden die Ziegen besonders gern. Mit Steinen und lautem Geschrei werden sie herausgejagt. Das Schilf soll noch geerntet werden, um Dächer damit zu decken. 

Vielleicht wurden mit Schilft und dem Holz von Tamariskenbäumen die lehmgelben und die türkisblauen Ziegel gebrannt für die Moscheen und Medressen. Wenn es heißt, Timur, der Herrscher über Samarkand, habe angeordnet, die Höhen der Bauten in wenigen Monaten zu verdoppeln, dann brauchte dies also doppelt so viel Holz und Schilf. 

Ist so ähnlich die Oxuskultur der frühen Bronzezeit untergegangen? Oder der Zoroastrismus in Choresm? Auch Alexander des Großen Reich, der im 4. Jahrhundert vor der Zeit bis ans Nuratau vorstieß, ging unter. Wir bewundern die großen Festungsreste bei Nurata aus dieser Zeit, aber sind sie nicht Zeugnis eines Scheiterns? Vielleicht lag es an fehlendem Gras, fehlendem Kameldorn und fehlenden Bäumen? Was erzählt uns die Petroglyphe aus der frühen Bronzezeit von vor mindestens 4500 Jahren im Nuratau-Gebirge? Dass Hirten mit Stock, begleitet von Hunden, die Herden über die Berge trieben. Das tun die Menschen im Nuratau noch heute und sie werden es noch in Jahrtausenden tun, wenn sie nur genug Gras wachsen lassen. Damit der Staubteufel nicht kommt. Damit der Tau gefangen wird. Damit ihre Herden und auch sie genug zu essen haben. Wie viele Menschen mit wie viel Tieren können hier leben? Braucht es statt der Kohlendioxid-Fixierung nicht ein Nachdenken über die Balance von Gras – Wasser – Herden, weil diese Balance in die Zukunft führt? 

Über Kohlendioxid unterhalten wir uns und lesen nach. Erstaunt sind wir, dass durch Beton und Ziegel acht Prozent der weltweiten Ausstöße erfolgen, was uns unvorstellbar viel scheint bei drei Prozent der Ausstöße allein durch den weltweiten Flugverkehr. Wir kommen aus einer Welt von Ziegeln, Beton und Glas, von Asphaltstraßen und Hochhäusern. Fast ständig sind am Himmel die Flugbahnen lang anhaltende Erinnerungsstreifen und trüben ihn ein. 

Hier am Rande der Wüste jedoch ist Tag für Tag das gleich unbefleckte Himmelsblau über uns – um uns die gelbbraune Halbwüste. Die Wellen des ausklingenden Nuratau geben ihm den Rhythmus, der ausklingt in die große Ebene.

So klein sind wir. Wie ein Grashalm im Wind. Wie unscheinbar und kaum vom Steppenboden zu unterscheiden, sind in der Ferne einzelne Gehöfte, selten Dörfer. Ihre Gebäude sind eingeschossig, gebaut aus getrockneten Lehmziegeln, verputzt mit einem Gemisch aus Gras und Lehm. Wieder ein Lob auf den Grashalm.

Am Gebirge sind die dortigen Steine in den Häusern mit eingebaut, aber der Putz gehorcht auch hier der Mischung aus Lehm und Gras. Nicht auszudenken, was die Folge wäre, wenn Beton Einzug hielte. Schon weil Gebäude aus Beton hier – wo die Mischung aus Lehm und Gras Sommerhitze und Winterkälte draußen hält – eine Klimaanlage benötigten, um sie bewohnen zu können. 

Als nächstes beginnen wir über die großen Flüsse in dieser Wüste nachzulesen, über Amudarja und Syrdarja, die kaum noch Wasser in den Aralsee bringen. Der ist von uns hier nordwärts gelegen, gleich hinter der großen Wüste Kysylkum. Die größte Umweltkatastrophe weltweit spielt sich gerade in Usbekistan ab, jedes deutsche Schulkind lernt davon – und hat es doch ebenso wie die Weltöffentlichkeit bald wieder vergessen. Das Problem wuchs mit der Monokultur des Baumwollanbaus seit der frühen Sowjetzeit: Die dünne Grasnarbe wurde aufgerissen, Landwirtschaft kam, wo früher die Herden entlangzogen. Dazu viel Technik, auf die die Menschen, die sie gebaut und genutzt haben, sehr stolz waren. Es ist eben herrlich, auf einem Traktor zu sitzen und von dort mit 30 Stundenkilometern ein Stück Welt zu beherrschen. Aber zu viel Wasser wurde entnommen, zu viel bewässert, zu viel verdunstete. 

Heute ist der Boden dort weiß, durchseucht von giftigen Salzen und Pflanzenschutzmitteln. Wo einst der See war, erstreckt sich die neue Wüste Aralkum, vom Restloch in der Mitte etwa 100 Kilometer in alle Richtungen. Neue Erscheinungen wie die täglichen, giftigen Stürme sind bis nach Taschkent spürbar, das Volk der in der Aralkum lebenden Karakalpaken leidet. – Das Gras muss kommen, im Schutze des Grases der Kameldorn, im Schutz des Kameldorns erste Bäume. Es wird nur so nacheinander gelingen. Es braucht ein Gras, das diese Mengen DDT und Salz verträgt. Unter den dreitausend Sorten wird es zu finden sein. Dann braucht es Geduld. Eine Geduld, die größer ist als ein Menschenleben. Schon allein weil drei Generationen Ungeduld die Zerstörung brachten und nun aufgewogen werden müssen.

„Wenn über eine dumme Sache endlich Gras gewachsen ist, kommt sicher ein Kamel gelaufen, das alles wieder runterfrisst.“ Dieser Satz von Wilhelm Busch ist in Deutschland zu einem geflügelten Wort geworden. 

Er meint schlimme Dinge, die passiert sind, die aber nicht zu ändern sind. Man sollte sie nicht immer wieder vorwurfsvoll vortragen, weil das Geschehene nicht rückgängig gemacht werden kann. Deshalb ist es also besser, dass Gras darüber wächst. Es ist ein schöner Satz über die Heilkraft des Grases. „Immer wieder wächst das Gras.“ Noch besser aber ist es, wenn das Gras hilft, aus dem Schaden für die Zukunft klug zu werden. 

Im benachbarten Afghanistan wird der Kusch-Tepa-Kanal ein Drittel der Wasser des Amudarja von seinem Oberlauf verbrauchen, bevor dieser überhaupt nach Usbekistan hineinkommt. Wo doch schon jetzt die Wasser des Amudarja nur noch in den Regenzeiten den Aralsee erreichen… Seit März 2022 ist der Kanal im Bau, 278 Kilometer lang soll er werden. In fünf Jahren soll er Afghanistan helfen, den Hunger im Lande zu besiegen mit einer halben Million Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche. Für Afghanistan hängt die Zukunft an dem Vorhaben, für Usbekistan steht die Zukunft auf dem Spiel: In den Oasen der Kysylkum am Unterlauf des Flusses mit ihrem dort noch immer gewonnenen Exportschlager Baumwolle. Worin könnte die Lehre der Aralsee-Katastrophe bestehen?

Nachdenklich schauen wir von den Vorgebirgen des Nuratau nach Nordwesten in die schier endlose und ganz flach vor uns liegende Ebene. Irgendwo dahinten in der Aralkum, achthundert Kilometer Luftlinie, wenige bewohnte Siedlungen dazwischen, gab es heute Mittag vielleicht wieder einen der giftigen Sandstürme. Die Sonne ist untergegangen, noch ist die Ebene braun-violett, gleich wird sie im Blaugrau versinken. Wir bringen nur karge Sätze hervor. 

„Jeder kann nur so viel nehmen, dass das Gras überlebt.“ –  „Wie viel Überfluss hat Deutschland allein an Baumwollkleidung.“ 

Das Paradies

Oben im Nuratau-Gebirge, zwischen fünfhundert und 2100 Metern Höhe entdecken wir dann einige Tage später das Paradies. Dort herrscht der Einklang von Gras – Wasser – Mensch. Weil es dem Menschen verboten ist, mit seinen Herden hier zu verweilen, auch der Besuch ist limitiert. Seit 1975 gibt es hier auf über 22.000 Hektar das Naturschutzgebiet „Nurota qóriqxonasi“. Das dort grasende und seltene wilde Sewerzov-Schaf haben wir nicht gesehen, aber doch seine Heimat kennengelernt: Zehn Quellen mit ihren Bächen begrünen ganzjährig die Täler mit Grasmatten, darüber wölben sich uralte Wallnusswälder und Maulbeerhaine, Zweige von wildem Apfel, Birnen, Bittermandel dazwischen. Einen Tag lang wandern wir die Quelle hinauf und noch höher in das Trockental bis vor den Hauptkamm. Im Mai war hier eine buntblumige Wiesensteppe, doch auch jetzt Ende September blüht, zirpt und summt es noch. Die Salbeiblüten setzen die letzten blauen Farbtupfer, der wilde Thymian [Ziziphora] führt die Düfte an, die Tragant-Arten [Astragagus] sind bescheidener, Berberitze und Hagebutte leuchten rot auf. Sie alle machen es wie die Gräser, sie sammeln den Tau aus der Wärme des Tages nach Sonnenuntergang. Sie kühlen das Tal und sie locken die eine oder andere Wolke, die versucht aufzusteigen am Gebirgspass, hinab zu sich. Das können alle Gräser, Dornen, Blumen und Bäume gemeinsam, tatsächlich. Leben zieht den Regen zu sich und so gibt es hier oben mitunter die doppelten Regenmengen als unten in der flachen Ebene. 

Im Stillesein spüren wir die Kraft des Lebens, im Hören, Riechen und Schauen. Unsere Nahrung sind einige Wallnüsse und Äpfel, die uns in Uchum freundliche Menschen schenkten. 

Eine Brücke aus dem Paradies hinaus in den usbekischen Alltag am Nuratau sollte ein Biosphärenreservat werden: Das Gebiet des Naturschutzgebietes, erweitert um eine Pufferzone, die noch einmal so groß wie dieses ist. In dieser übt der Mensch zurückzutreten und die Zusammenhänge in der Natur besser zu verstehen.

Der Deutsche Biologe Michael Succow – geboren 1941 in Brandenburg – hatte davon geträumt und weltweit dafür gerungen, politisch, wissenschaftlich, persönlich. In vielen Regionen auch in Zentralasien hat er für die Idee größerer Schutzgebiete und Lernräume des Wirtschaftens mit der Natur geworben, anderswo war es gelungen. Er erhielt sogar den Alternativen Nobelpreis dafür. Mit ihm wirkten auch im Nuratau viele Idealisten. 2009 jedoch wurde hier das Projekt aufgegeben. Sank damit die Chance, mit der Auszeichnung der UNESCO als Biosphärenreservat, vom usbekischen Staat Fördergelder zu erhalten und die Balance zwischen Nutzen und Wachsenlassen zu stemmen?

Auch die deutschen Anwohner in den brandenburgischen Steppeninseln sind nicht vorangekommen, seit die Dürre immer mehr zunimmt und Missernten häufiger werden. Gefördert wird die deutsche Landwirtschaft von der Europäischen Union nach Fläche. Je größer die, desto mehr Geld gibt es. Hecken, Gebüsche oder gar Windschutzstreifen, die den Wind bremsen und Austrocknung mildern, stören da. Die vorhandenen zu pflegen, fehlt es an Willen und Liebe. Auch weil die Besitzer dieser Flächen mitunter nicht mehr die Bauern selbst sind, die in dieser Landschaft leben. Es gibt in Brandenburg ganze Dörfer, da arbeitet niemand mehr auf seinen eigenen Flächen. Diese sind verpachtet, und zwar an Betreiber, die nur den Gewinn errechnen, in ihren Büros in den Ballungsräumen mit Klimaanlagen zwischen Beton und Glas, weitab vom Acker. Die Betriebe auf dem Lande, und nur große Betriebe rechnen sich, stellen Mitarbeiter ein, die Mähdrescher fahren, die die große Fregatte zur Beregnung bedienen und die am Ende mit Lohn nach Hause gehen, nicht fragend, wie es um das Wachsen da draußen bestellt ist. 

Jedes Jahr gibt es inzwischen hier mehrfach Sandstürme. Vor allem dann, wenn im Herbst die riesigen Schläge abgeerntet und umgepflügt sind und die schützende Vegetation fehlt. Pflanzenleben ist wie eine zweite Haut auf der nackten, empfindlichen Erde. An einer Straße bei Jüterbog im Niederen Fläming hatte sich mir Ende Oktober 2021 ein Bild gleich einer Wüste geboten. Weiß liegen die Sandkörner, in die der Wind ein Streifenmuster zusammengeweht hat. Fortgeweht ist wieder einmal der leichtere, fruchtbare Podsol, der hier eine Schicht von anderthalb Metern hat. In der Ferne steht etwas verloren in dieser Wüste eine Beregnungsanlage. 

Nur einige Kilometer weiter gibt es ein Naturschutzgebiet für einen einst von vielen Wasserarmen durchzogenen Flecken Erde mit einem See: Die Wiepersdorfer Wasserheide. 1978 wurde sie unter Schutz gestellt. Der See hatte eine Länge von fast hundert Metern. Jetzt ist es ein Tümpel von zehn mal zehn Schritt, den ich den Aralsee von Wiepersdorf nenne. 

Es gibt das deutsche Sprichwort: „Das Gras wachsen hören“. Menschen, die „das Gras wachsen hören“, sind ängstlich und panisch, weil sie sich unnötigerweise frühzeitig Gedanken über wirkliche oder eingebildete Probleme machen. „Hör mal nicht das Gras wachsen“, ist dann so ein gutgemeinter Ratschlag. „Kannst ja doch nichts ändern“, wird achselzuckend hinzugefügt. „Die Wasserheide ist verloren“, sagt der Bauer vom Nachbardorf und geht seiner Wege.

„Denn alles Fleisch, es ist wie Gras und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen.“ Im Chorgesang von Johannes Brahms kommen mir diese Worte in den Sinn, eindringlicher Höhepunkt seines Deutschen Requiems. Worte aus dem 1. Brief des Petrus im Neuen Testament. Es ist ein Tag wie der vorige unter dem Himmelsblau, wir schauen mal wieder auf die wandernden Tierherden, die Schritt für Schritt weiterziehen. Auf das Gras, das der Wüste Leben bringt. Dicht beieinander ist das Gras stark, ein Grashalm allein würde untergehen im verwehten Sand. 

„Früher hielten die Menschen zusammen“, sagt Elmira. Sie dankt der Sowjetzeit ihre Ausbildung am Technikum, war Abteilungsleiterin im Großhandel und bedauert vor allem dies: Dass die Menschen nicht mehr zusammenhalten, beispielsweise nicht gemeinsam den Hof zwischen ihren Wohnblöcken in Taschkent, wo sie lebt, begrünen, sondern Holz stehlen und ihre Autos dort parken, wo früher Bänke standen. Aber war es früher wirklich besser? Den Menschen hier, mit denen wir tiefer ins Gespräch kommen, stellen wir diese Frage: Wann war es besser, in der Sowjetzeit oder jetzt? 

Wann war es besser?

Elmiras Antwort ist gekommen, kaum dass die Frage formuliert war, wie ein Sturzbach: „Früher war es leichter. Wir hatten ein sicheres Leben. Kindergärten, Universitäten, überhaupt Bildung, das war alles kostenlos. Meine Eltern und ich, wir sind gereist, wir waren in Moskau, Petersburg, in Kaliningrad und auch am Kaukasus, denn von dort stammen meine Großeltern. Preiswert waren die Wohnungen.“- Heute ist Elmira krank, aber noch zu jung für die Rente, schlägt sich durch: „Jetzt geht es nur noch ums Geld und dem rennen wir hinterher. Wir müssen ja wohnen, essen und uns kleiden.“ – „In der Sowjetunion hieß es, Du musst schweigen. Aber das ist nicht wahr. Jetzt schweigen wir viel mehr. Wie die Schafe. Ich sage meine Meinung, aber meine Tochter ist viel ängstlicher und schweigt.“ Und dann, als wollte sie alles noch einmal unterstreichen, wiederholt sie: „Ich sage, es war besser. – Es war das Wichtigste in meinem Leben – kostenlos.“

Wir denken an die Katastrophe des Aralsees, aber auch an den Satz aus Uchum: „Es gab mehr Wasser hier zu Sowjetzeiten.“ Trotzdem kam von dort aus dem Nuratau-Gebirge mehrfach die Meinung: „Jetzt ist es besser“. Und auch unser ‚Warum‘ erhielt klare, knappe Antwort: „Es wird nicht ständig zu Versammlungen gerufen.“ „Wir müssen uns nicht Anweisungen abholen.“ „Wir entscheiden selbst, wie wir leben wollen.“

Wir dürfen dem bekannten usbekischen Schriftsteller Dschura Fosil unsere Frage stellen. Er stammt aus dem Buchara-Gebiet und hatte in der Sowjetzeit wichtige Funktionen inne. Jetzt ist er 74 Jahre und fast völlig erblindet. Gern antwortet er: „Die Sowjetzeit war auch eine besonders schwere Zeit für unser Volk. Die besten Vertreter unseres Volkes erfuhren Repressalien. Außerdem war es so, dass man damals die alten Gedenkstätten unserer hervorragenden Ahnen nicht besuchen durfte. Es war beschämend, in Grund und Boden beschämend für mich, wenn ausländische Gäste kamen, Gelehrte kann man sagen, und ich den Weg zu dieser Gedenkstätte nicht finden konnte. Erst nach der Sowjetzeit erschien mein erstes Buch, und ich möchte sagen, dass die Unabhängigkeit uns all das Gute gebracht hat.“

Auch unserem usbekischen Freund in Taschkent erzählten wir von unseren Fragen: Er spricht sehr gut Deutsch, kennt Deutschland und kann sich deshalb in unsere Gedanken hineinversetzen. Er spricht sehr nachdenklich: „Viele schimpfen heute auf die Sowjetzeit. Aber ich denke, das ist nicht recht. Ich erinnere an die kostenlosen Kindergärten, die kostenlose medizinische Betreuung. Es ging uns gut, das Leben war leichter. Ich selbst habe doch die Hälfte meines Lebens in der Sowjetzeit verbracht, habe dank dieser Zeit studieren können, ich, ein Bauernsohn. Jetzt ist das Leben schwieriger. Aber es ist die zweite Hälfte meines Lebens. Meine Enkel sind in dieses neue Leben geboren und beide Zeiten gehören zu meinem Leben. Da kann ich doch nicht einfach eine Hälfte herausschneiden.“

Seine Gedanken, die maßvoll abwägen und nicht gleich urteilen, setze ich an das Ende unserer Gesprächsnotizen. Weil das Maßhalten für uns DIE Lehre der Wüste ist: Zusammengesetzt aus Bescheidenheit und Geduld.

Dazu gehört auch eine weitere Beobachtung, die etwas von Deutschland sehr Verschiedenes andeutet: Wenn zwei Usbeken irgendwo zusammenstehen, kommen sie rasch in ein Gespräch. Ruhig und bedachtsam geschieht dies, aber klar und gedankenvoll. 

Nun sind die Menschen keine Grashalme. In gewisser Weise jedoch leben die unzähligen Grasbüschel in den Wüsten und Steppen Usbekistans sich gegenseitig schützend still und leise vor, wie es bei den Menschen gehen könnte. 

Nicht enden darf das Lob des Grashalms ohne unser Staunen darüber, wie er überhaupt so hoch werden kann. Alles Menschenwerk bräuchte ein breiteres Fundament, um in die Höhe zu kommen. Der Grashalm aber wächst ein Hundertfaches seines Durchmessers, leicht, beweglich und doch fest. Er trägt dabei auch seinen Samenstand, streut die Körner in alle Winde. – Sein Konstruktionsgeheimnis kann jeder entschlüsseln, der sich in ihn vertieft. 

Würden wir den Grashalm fragen, welche Zeit besser war, so würde er sagen: „Nicht die Zeit ist besser, die mich gießt, um mich dann zu kurzfristigem Nutzen zu beseitigen. Sondern die, die mich langfristig einfach leben lässt.“ Das kann in die Vergangenheit und in die Zukunft gelesen werden. 


24. Januar 2024