Über die Kälte

Meine Nachbarn hatten sich eine Katze angeschafft, ein schwarzweiß geflecktes, kleines Tierchen. Sie nannten sie Minou. Die Nachbarn lebten in Berlin und konnten sich nur am Wochenende um ihr Haustier kümmern. Für Minou war das nicht schön, sie war ausgesprochen nähebedürftig und überhaupt macht den Katzen das Wechselbad aus menschlicher Gesellschaft in warmer Stube und einsamem Ausharren im Freien zu schaffen. 

Je älter Minou wurde, umso mehr setzten ihr die Winter zu. Sie suchte die Wärme und floh die Kälte. Begegneten wir uns, rannte sie sofort auf mich zu und setzte sich auf meine Schuhe. So bekam sie Abstand zwischen den kalten Boden und ihre Pfötchen. Irgendwo hatte sie eine Aschegrube gefunden, in der heiße Kohleasche verklappt wurde, dort schien sie zu schlafen und nahm davon eine immer rötlichere Farbe an. Irgendwann hatte ich den Eindruck, Minou war nur noch eine einzige Sehnsucht nach Wärme. In dieser Zeit fand sie heraus, dass es im Motorraum meines Autos eine Möglichkeit gab, sich hinter den warmen Motor zu legen, wenn ich nach Hause kam. 

Einmal fuhr ich nach Berlin, um in der Bibliothek zu lesen. Da ich anschließend noch eine Chorprobe hatte und spät nach Hause kommen würde, nahm ich das Auto. Ich parkte es in Berlin-Mitte und stieg aus. Da stand Minou auf der Straße und maunzte. Sie hatte zu Hause im Motorraum meines Autos geschlafen und war von der Abfahrt kalt erwischt worden. In der folgenden Stunde hatte sie offenbar keinen Moment gefunden, um abzuspringen und war die ganze Strecke nach Berlin mitgefahren. Jetzt war ihr wahrscheinlich warm, aber sie war natürlich völlig verstört, von der Fahrt und von der Umgebung. 

Wie ich bald feststellte, konnte man schlecht mit der Katze im Auto fahren. Sie sauste herum, hoch aufs Armaturenbrett, runter auf die Sitzbank, immer im Kreis, so brachte sie uns beide in Gefahr. In den Motorraum konnte ich sie nicht wieder zurücksetzen. Zum Glück erblickte ich zufällig meine Nachbarin, die Besitzerin der Katze, die gerade in einem Berliner Stadtpark ein Kunstprojekt mit Narzissenmustern im Rasen realisierte. Sie nahm Minou mit in ihre Pankower Wohnung und am Wochenende dann wieder hinaus aufs Land. 

Auch unsere eigene Katze fing in ihren letzten Lebensjahren an zu frieren, und auch sie fand heraus, dass es in einem frisch abgestellten Auto einen warmen Platz hinter dem Motor gab. Im Gegensatz zu Minou wurde ihr diese Entdeckung zum Verhängnis. Sie geriet in die Lichtmaschine und verletzte sich schwer. Das war ihr Ende. 

Katzen sind Haustiere, hierzulande brauchen sie wohl mindestens die Wärme eines Stalles. 

Die Schafe dagegen scheinen gegen Kälte unempfindlich zu sein. Im Winter liegen sie nachts auf der Wiese, am nächsten Morgen bedeckt von Raureif und fast mit der Wiese verschmolzen. Ich kann nicht erkennen, dass ihnen das etwas ausmacht. Das beeindruckt mich, auch bei den Wildtieren. Es gibt Tage, die nicht nur kalt sondern auch windig sind, und immer frage ich mich, wie die Rehe auf dem Feld das ertragen. 

Meine eigene Empfindlichkeit gegen die Kälte ist veränderlich. Im Sommer dusche ich morgens immer kalt im Garten. Wird es dann Herbst, geht das nicht mehr, der Gartenschlauch friert ein und ich muss drinnen duschen. Das kalte Wasser habe ich aber beibehalten, die Wärme des Bettes reicht am Morgen aus, um das zu genießen. Dagegen kühle ich am Tage, stundenlang am Schreibtisch sitzend, leicht aus. Ich muss mich ganz warm anziehen, um am Mittag nicht grau und verloren im Stuhl zu hängen. Als einige Politiker vor einem Jahr lässig meinten, die Leute müssten auch mit ein paar Grad weniger zurechtkommen, habe ich deshalb gestaunt und mich gefragt, wie sie eigentlich ihre Tage zubringen. Ich wüsste nicht, wie ich es bei meiner leider recht bewegungsarmen Arbeit hinkriegen, oder wie viele Pullover ich eigentlich noch anziehen sollte, nicht erbärmlich zu frieren, wenn es im Büro weniger als 18 Grad Celsius sind.

Mir ist klar, dass die Bewältigung von Kälte auch eine mentale Frage ist. Man muss fokussiert sein, sich auf das eigene System und seine Umwelt konzentrieren. Freunde von mir bespielten mehrere Jahre lang den Eberswalder Weihnachtsmarkt. Das waren acht lange, oftmals wirklich kalte Tage im Freien. Meine Freunde haben mir erzählt, dass sie diese Zeit durchgeklappert und gezittert hätten, wäre es ihnen nicht gelungen, eine bestimmte innere Einstellung zu entwickeln. Da man sich fokussierte, war es auszuhalten. Aus eben diesem Grund, so denke ich, fange ich umgekehrt am Schreibtisch an zu frieren: Weil ich auf anderes konzentriert bin, nicht auf den körperlichen Selbsterhalt. 

Wenn ich hier auf den Dörfern zu Beerdigungen gehe, treffe ich auf Männer, die eine Generation älter sind als ich. Sie kommen im kalten März bei trockenem Wind ans Grab und tragen nur eine altmodische Windjacke, ein paar karge Schuhe und ein Hütchen. Keinen Schal, kein Halstuch. So stehen sie da, lange und unbeirrt, und geben ihren Nachbarn, Kollegen oder Freunden das letzte Geleit. Sie klopfen sich nicht warm, sie zeigen überhaupt keine Unruhe über die Kälte. 

Die jüngeren Menschen dagegen sind oft mit den flauschigsten Sachen gekleidet, mit großen Fellmützen, gewaltigen Stiefeln, riesigen Schals und mit Handschuhen. Vielleicht haben sie dieses große Wärmebedürfnis, weil sie schlechter fokussiert sind. Weil sie mehr mit ihren Handys beschäftigt sind als mit der Auseinandersetzung des eigenen Systems mit seiner unwirtlichten Umwelt. 

Im Winter 2021/22 baute ich mir eine Sauna im Garten. Ich hatte in dieser Zeit ein ungeheures Wärmebedürfnis, es konnte gar nicht genug sein. Natürlich war das auch ein Ersatz für die geschlossenen öffentlichen Saunen. Aber denke ich heute an diese Monate zurück, kommt es mir so vor, als sei es vor allem eine Reaktion auf die soziale Kälte dieser Zeit gewesen. Damals wurden viele warme Worte benutzt, es wurde eine Gemeinschaft der Solidarität beschworen, aber die Worte wirkten auf mich leer und eisig. Und nicht nur das, viele Menschen verweigerten einander ganz sichtbar das Mitgefühl. Es wurden in dieser Zeit ohne Zögern sehr viele Opfer gebracht; vernachlässigte Kinder, einsame alte Menschen und ganz gesunde Erwachsene, die nun krank sind, am Körper oder an der Seele. 

Mir wurde damals immer kälter. Und als ich das erste Mal in dem heißen Holzhaus saß, dachte ich: Oh danke, danke, was für eine Erleichterung! 

Übrigens haben sich viele Leute damals eine Sauna gebaut. Andere begannen, in der Eistonne zu baden und sich, genau umgekehrt, auf die Bewältigung der Kälte zu konzentrieren. Sie berichten mir heute noch voller Glück von ihren Erfolgen. 

Der Triumph, gegen die Kälte zu bestehen, ist wahrscheinlich noch größer, als die Freude, aus allen Poren schwitzen zu können. Es vertreibt Depressionen und verleiht einem ein großes Selbstvertrauen. 

Neulich berichtete mir jemand von einer politischen Forderung, die gerade en vogue ist, übrigens ausgesprochen zustimmend: Man sollte den alten Menschen das Wahlrecht entziehen, denn diese stürben ja ohnehin bald und deshalb wählten sie die falschen Parteien, die nicht für die Zukunft der kommenden Generationen stünden. Dafür sollte man das Alter, ab dem Menschen an der Wahl teilnehmen dürften, heruntersetzen. 

Ich vermute, dass es sich bei dieser Forderung um einen politischen Witz handelt. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Das grausame Moment an diesem Witz ist die Wahrheit, die in ihm steckt. Dieser Witz, so dachte ich, ist so wahr, dass einem das Blut in den Adern gefrieren muss. Ich hatte tatsächlich noch nie gehört, dass jemand auf die Idee gekommen war, Menschen, deren politische Entscheidungen einem nicht gefallen, einfach vom demokratischen Prozess auszuschließen. Und auch wenn es sich bei dieser Forderung um verunglückte Satire gehhandelt haben sollte, so meine ich doch, dass wir nicht mehr weit von einer Welt entfernt sind, die genau so funktioniert. Mein Gesprächspartner hat jedenfalls nicht gelacht, als er diesen Witz erzählte, er nahm ihn als politisches Programm: Menschen, die über alternativloses Wissen verfügen, sprechen den anderen jedes Recht ab. Die anderen – sind das überhaupt Menschen? Doch eher nicht. Man muss zu ihnen nicht freundlich sein, man muss ihnen nicht zuhören, man kann ihnen auch ihre Rechte entziehen, ganz gleich, ob es der Gang zum Friseur oder die Teilnahme an einer Wahl ist. Man darf sie beschimpfen und ihnen das Wort entziehen, denn sie sind nichts.

Von dieser Idee zu hören, das hat etwas in mir ausgelöst. Ich dachte an die alten zähen Männer, die ohne Schal und Wolle am Grab ihrer Gefährten stehen. Früher schätzte man die Erfahrung und Weisheit der Alten. Dann nutzte man die alten Leute als Stimmvieh in den Altersheimen. Und nun, da man zu faul dafür ist, sich die Mühe zu machen, an ihre Betten zu gehen und ihnen die zittrige Hand auf dem Wahlzettel zu führen, kommt man auf die Idee, sie besser ganz von der Wahl auszuschließen. 

Seither heize ich meine Sauna mit besonderer Hingabe. 

Meiner Katze, die wegen einer Allergie in meiner Familie nicht ins Haus darf, lasse ich eine Matratze auf der Terrasse liegen. Ich begrüße sie morgens und freue mich, wenn sie sich dick und rund frisst und ein puschiges Fell bekommt. 

Ich denke an meine Eltern und wie tapfer sie das Alter gestalten und immer an den Heizkosten sparen, dafür aber aus Polen immer einen Sack Brennholz für den Kamin mitbringen. Hier sitzen sie jeden Nachmittag im Winter und wärmen sich. 

Ich bewundere die Tiere auf dem Feld und ihre Fähigkeit, der Kälte zu trotzen. 

Und ich übe mich in der Konzentration auf meine innere Wärme. Ich versuche, dankbar für alles zu sein, was mir das Leben bietet, und allen Menschen etwas von meiner Wärme zu schenken. Solange ich welche zu schenken habe. 

27. Februar 2023