Das Leben nach dem Stubenarrest

Kaum zu glauben, dass man mit einem Kanu anstands- und kostenlos durch die riesige Schleuse einer Bundeswasserstraße geschleust wird. Die zugerichtete Landschaft erhält einen Hauch vom Mekong.

Ich wollte mit meinen drei Söhnen wandern gehen. So um Himmelfahrt, dachte ich, vielleicht im Harz, oder in Franken. Tagsüber laufen, mit wenig Gepäck, dann in eine Pension einkehren, Duschen, was Essen gehen. So hatte ich mir das vorgestellt. Aber meine Jungs verkündeten mir, dass sie in keine Pension wollten, sie wollten sich mit ihren Hängematten irgendwo im Wald zwischen zwei Bäume hängen. Wollten draußen sein, die ganze Zeit, immer draußen. Mit wenig auskommen, und das Notwendige bei sich haben. Sie waren 13, 23 und 30 Jahre alt, also kaum noch als eine Generation anzusprechen, aber in dieser Hinsicht hatten sie die gleichen Bedürfnisse.

Das freie und anspruchslose Biwakieren ist jetzt im Schwange, und es ist folgerichtig. Wenn das Leben nur noch aus Digitalem besteht, aus kaltem Licht und aus ständigem Sitzen, aus Streaming und Daten, und wenn man außerdem zwei Jahre lang mehr oder weniger in Boxen gehalten wurde, dann muss einfach irgendwann ein Durst nach frischer Luft entstehen. Nun ist er da, und das ist schön.

Aber ich war ein wenig unsicher. Erstens habe keine Ahnung von den Wäldern im Harz oder in Franken und den Möglichkeiten, sich dort einfach irgendwo in die Büsche zu hauen. Die Zeiten, in denen ich es habe drauf ankommen lassen, von einem irgendwie Befugten nachts hochgejagt zu werden (das ist immer wieder vorgekommen), sind vorbei. Außerdem hatte ich Zweifel, ob ich in meinem Alter noch gut würde in einer Hängematte schlafen können.

Also überredete ich meine Söhne zu einer kleinen Kanu-Tour in der eigenen Gegend, rund ums Haus sozusagen, wo das Selbstbewusstsein gegenüber den Leuten, denen wir begegnen würden, etwas höher sein würde. Denn das Oderbruch ist auch meine Landschaft, und ich weiß einigermaßen, wie ich mich in ihr bewegen kann, was mir zusteht und was sich hier gehört. Außerdem wollte ich ein kleines Zelt mitführen, während sich die Jungs mit ihren wunderbar leichten und praktischen und mückensicheren Hängematten und Tarps in die Bäume baumeln würden.

Wir fuhren in drei Tagen einmal um die Neuenhagener Insel herum. Es war wunderschön. Am Schöpfwerk Neutornow setzten wir in die Tornsche See ein, und sofort war man in einer anderen Welt: Schilf und Weiden entlang kleiner Halbinseln, Vögel und Fische, über allem das Dorf am Hang mit seinen Gärten und Dächern. Von hier aus gelangten wir in die Stille Oder, verschlungen wie ein Seitenarm des Amazonas: Gehölze, Wurzelteller umgestürzter Bäume, Eisvögel, Drosselrohrsänger und Schwäne. Zur Linken konnte man den hellen Kirchturm von Neutornow sehen. Die bekannte Gegend, sie wirkte vom Wasser aus wie ein Zauberland. Dann ging es in den Mucker hinein, der teilweise durchs offene Feld führt. Hier fanden wir ein kleines, mit Bäumen bestandenes Plateau zum Biwakieren. Man konnte Angeln und Baden und sich ein Lager einrichten wie einst Huckleberry Finn. Die Fläche lag etwas tiefer als der umgebende Acker, sodass man wunderbar gegen Wind und Regen geschützt war. Abends stieg ich die Böschung hinauf und konnte mein Haus am Horizont sehen, es wirkte ganz seltsam, klein und stolz und weit weg.

Am nächsten Tag trugen wir die Boote über den Deich und setzten in die Stromoder ein. Da war Wind und hoher Wellengang und wir hatten nun doch ein bisschen Angst, gegen die Wellen zu kommen und zu kentern. Ich fürchtete abwechselnd um Leib und Leben oder nur um unser Gepäck, in entspannten Momenten lediglich vor der Peinlichkeit, pudelnass vor den Augen anderer aus dem Wasser krabbeln zu müssen. Aber es ging alles gut. Wir zogen stromabwärts bis Hohensaaten und ließen uns schleusen. Mit so einem kleinen Boot in diese riesige Schleuse einzufahren, die extra für einen geöffnet wird, das ist ein großes Erlebnis. Wir konnten es kaum glauben, aber für den Schleusenwärter war es ganz normal.

Zwischen Hohensaaten und Oderberg schlugen wir in der zweiten Nacht unser Lager unter einer riesigen Manna-Esche auf, ein Baum wie aus Game of Thrones, mit mächtigen Stämmen, die wie Organe eines gewaltigen Strauches in alle Richtungen auseinanderstrebten. Ich habe keine Ahnung, wie dieser Baum hierher kam, in meinen Büchern steht, er wachse im Süden Europas. Unter seinem Schirm kochten wir Käsenudeln und lauschten dem Wasser. Und am nächsten Tag ging es über Oderberg wieder nach Hause. Dieses Städtchen prangt geradezu über dem Wasser, mit seiner schlanken Stüler-Kirche und den vielen kleinen, ganz unterschiedlichen Häusern wirkt es wie aus einer anderen Zeit. Am Nachmittag rasteten wir noch einmal auf einer Wiese mit Blick auf den Bralitzer Kirchturm, das war nun schon fast wie eine Szene aus dem 19. Jahrhundert.

Nach der Brücke am Fährkrug passiert man in Schiffmühle die zahlreichen Wassergrundstücke, und man sieht, wie sich die Menschen hier an der Alten Oder eingerichtet haben, mit Stegen und Booten, mit Sauna und Liegestuhl. Immer wieder sitzen Reiher am Ufer und schauen zu, wie man vorbeigleitet. Allerdings gibt es im Abschnitt zwischen Oderberg und Bralitz einige Ärgernisse, doch dazu gleich.

Als wir am Abend des dritten Tages wieder zu Hause ankamen, waren wir glücklich, wie neu geboren. Wir waren gar nicht weit weg gewesen, dennoch hatte es sich angefühlt wie eine weite Reise und ein richtiges Abenteuer, so wie Janosch es vom kleinen Tiger und vom kleinen Bären und ihrer Reise nach Panama erzählt hatte. Sich der eigenen Landschaft so auszusetzen, mit weniger Schutz, als man ihn in seinem Haus genießt, und zu erleben, dass sie einem das erlaubt! Dass man in ihr geborgen sein kann, trotz Wind und Regen! Dieses Gefühl trägt man dann auch in den kommenden Monaten mit sich herum. Es ist eine Erfahrung der Fülle.

Wenn etwas nicht nur schön ist, sondern auch nichts kostet und deshalb für jeden Menschen zur Verfügung steht – und das ist beim Betreten und Bewandern der offenen Landschaft der Fall – dann sollte man das doch eigentlich empfehlen und fördern. Die Menschen müssten dann weniger fliegen und sie täten auch etwas für ihre Gesundheit, physisch und psychisch. Ich habe diese Tage auch als eine Auseinandersetzung mit eigenen Ängsten erlebt. Man muss nämlich auf ein paar Sicherheiten verzichten, die einem durch gewerblich formatierte Reisemöglichkeiten geboten werden. Man muss auf seine eigenen Lösungen und auf die Freundlichkeit der Natur vertrauen, und wenn man dann auch nur ein paar kleine selbständige Schritte oder Paddelzüge gemacht hat, wird man üppig dafür belohnt.

Und tatsächlich, es spricht auch erst einmal überhaupt nichts dagegen. In Brandenburg darf man als Wanderer, Radfahrer oder Wasserwanderer eine Nacht an je einem Ort in der freien Wildbahn sein Lager aufschlagen. Das finde ich gut. Aber es wundert mich eben, dass es nirgendwo deutlich zu hören ist. Alle reden über das skandinavische „Allemansrätten“ und wie toll das sei, aber dass wir so etwas eigentlich auch haben, das scheint kaum jemanden zu interessieren. Mir scheint, man verschweigt es. Vielleicht ist das eine bösartige Unterstellung, aber ich habe Indizien aus vielen Gesprächen. Wie sagt unser Stadtförster: „Die Leute müssen nicht überall hinkrauchen.“ – Was für ein infames Framing für das Bedürfnis, sich querfeldein durch die Welt zu schlagen! Man fürchtet zehntausende vandalistische Trampeltiere, die alles kaputt machen und ihren Müll sowie lauter Ärgernisse hinterlassen.

Dieses Misstrauen zeugt in meinen Augen von einer geringen Menschenkenntnis. Wer sich mit beinahe nichts im Rucksack und ohne gastronomische Angebote querfeldein bewegt, den muss man in der Natur nicht fürchten. Es mag vorkommen, dass sich jemand danebenbenimmt, aber meist hat man es hier mit Menschen zu tun, die sich der Landschaft anvertrauen und sie zu schätzen wissen. Meine Söhne jedenfalls brachten von unserer kleinen Fahrt einen großen Sack Müll mit, den sie unterwegs aufgesammelt hatten. Ich bin mir sicher, dass von jenen, die auf diese Weise unterwegs sind, ein guter Einfluss auf jene ausgeht, die einen weniger feinen Sinn beweisen, wenn sie mit ihren teuren Angelausrüstungen, ihren Quads oder Mountainbikes in der zarten, kargen Mark aufschlagen. Aber gut, man muss diese Möglichkeiten ja nicht jedem auf die Nase binden. Könnte man sagen. Die Leute müssen sich das eben selbst erarbeiten und einander ihre Erfahrungen mitteilen.

Das könnte man alles hinnehmen, sofern sich nicht der Eindruck aufdrängen würde, dass jene, die diese Erfahrungen teilen und begünstigen wollen, aktiv behindert werden.

Wer zum Beispiel den Kanuverleihern und ihren Erfahrungen bei der Etablierung von Wasserwanderangeboten zuhört, gewinnt den Eindruck, dass da doch einige aktive Widerstände aufgebaut werden, vor allem im Bereich der Großschutzgebiete, die doch eigentlich im Kern die Begegnung und nachhaltige Interaktion von Mensch und Natur begünstigen sollen. Ob und wann Gewässer überhaupt für die Kanufahrer freigegeben werden, ist Ergebnis eines zähen Feilschens. Immer wieder werden naturschutzfachliche Argumente ins Feld geführt, vor allem der Brutvogelschutz. Ich bin kein Ornithologe, aber ich habe erhebliche Zweifel, dass diese Argumente triftig sind. Vögel gewöhnen sich – wie andere Tiere auch – sehr schnell an Störungen, wenn diese ihr Verhalten nicht beeinträchtigen. Auch ist die Datenlage mehr als mangelhaft. Es drängt sich der Eindruck auf, dass man die Menschen einfach nicht da draußen haben will.

Deshalb gelang es der Arbeitsinitiative Letschin seinerzeit auch nicht, einen Biwakplatz zwischen Oderberg und Bralitz einzurichten. Man findet diese in Paulshof, in Zuckerfabrik oder auch in Schiffmühle, aber dann hört es auf. Für die Wasserwanderer ist es misslich, wenn sie nicht irgendwo mal anlegen können. Da sie es irgendwann einfach trotzdem tun, frequentieren sie private Grundstücke, deren Besitzer sich natürlich dagegen zur Wehr setzen. Zwischen Oderberg und Bralitz wird man deshalb von so vielen Schildern in die Flucht geschlagen, dass man sich ganz und gar unwillkommen fühlt. Das war der feindselige Abschnitt unserer kleinen Reise, und es ist eben jener, der von den meisten Kanufahrern genutzt wird. Was für ein Bild bekommen sie hier von der heimischen Landschaft? Ein Bild, in dem sie nicht willkommen sind. Wir reden da über wenige Meter Anlegefläche, deren Fehlen aus einer wunderschönen Kanutour ein Ärgernis zwischen Anrainern, Bootsverleihern, Kanufahrern und Behörden macht, sofern man nicht lange genug unterwegs ist, um in jene Zonen vorzudringen, derer sich der Naturschutz noch nicht angenommen hat.

Einen ähnlichen Eindruck hatte ich auch, als ich mit einem jungen Kollegen eine naturgeschichtliche Wanderung erarbeitete, der zwar ausschließlich auf öffentlichen Wegen verlief, für die wir aber dennoch eine Meinung der Unteren Naturschutzbehörde und des Waldbesitzers einholen wollten. Auf mehrmaliges Anschreiben und Anrufen gab es von der einen Seite gar keine, von der anderen Seite vehement ablehnende Reaktionen. Wir kamen uns auf einmal vor wie Leute, die unbefugt in fremdes Gelände eindringen. Und tatsächlich ist der öffentliche Weg, der in das wunderschöne Gebiet führt, das wir den Menschen nahebringen wollten, mit einem Tor verschlossen. Dieses kann man zwar aufmachen, aber das muss man sich erst einmal trauen. Ich lebe seit fast dreißig Jahren hier – auf die Idee, dass es mir zusteht, dieses Tor zu öffnen, war ich nie gekommen. So habe ich all die Jahrzehnte einen der schönsten Flecken der hiesigen Landschaft nicht entdeckt. Wie geschickt!

In Schiffmühle konnte man früher von der Straße zwischen den Häusern hindurch hoch auf die wunderschönen Höhen oder herunter an die ebenso schöne Alte Oder gehen. Zu Fuß, einfach so. Nach und nach sind die Wege vergangen, verstellt, zugewachsen, mit Toren oder Zäunen verschlossen worden. Was übrig bleibt ist, ein Straßendorf.

Es ist schon richtig, dass wir heute viel zu viel auf dem Handy daddeln. Aber unterdessen ändern sich auch die Räume da draußen, die uns bald nichts anderes mehr erlauben, als auf ein Display zu gucken. Dagegen hilft nur, sich so viel wie möglich im Freien zu bewegen, alte Pfade wiederzuentdecken und uns die Landschaft neu anzueignen. Alles andere ist eine sterile Dystopie: Ein suburbaner Raum, aufgeteilt in Wohngebiet, Parkplatz, Ferienanlage und Gewerbezone. Ich möchte so nicht leben.

Es freut mich, dass meine Söhne sich draußen so viel herumtreiben. Sie fahren mit dem Rad nach Sachsen und übernachten in einem Kiefernforst, der nach Blair Witch Project aussieht. Sie ziehen nach der Party von zu Hause los, um im Wald zu schlafen. Sie fachsimpeln über Kordeln, richtige Knoten und kleine Feuer. Die Welt ist nicht überall schön, aber wenn man sich ihr anvertraut, wird sie wirlkich ein besserer Ort.

25. Juni 2023