Ein Dorf hat keine Wahl

Über Demokratie im ländlichen Raum zu sprechen, ist nicht mein Fach. Aber als ich mich das Kulturamt des Landkreises darum bat, habe ein paar Dinge zusammengetragen, die ich in den letzten Jahren beobachtet habe­. Ich habe Texte und Vorträge von Steffen Mau, Soziologe an der Humboldt-Universität und Gedichte von Bertolt Brecht gelesen. Und ich bin nach nebenan gegangen, um mit Rudolf Heger, Ortvorsteher von Falkenberg und Gemeindevertreter in Tauche bei Beeskow, zu sprechen.

1.

23.Mai 2019, Märkische Oderzeitung – Grundgesetz – Landrat Lindemann würdigt mit einer Festveranstaltung auf der Burg Beeskow das Grundgesetz.

Wann haben Sie zuletzt im Grundgesetz geblättert? Machen Sie das mal. Da stehen viele schöne Sätze drin. Die Klassiker können wir alle zitieren. Von der unantastbaren Würde. Artikel 1. Von der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Artikel 2. So schön gedichtet. So knapp. Hätte Moses nichts besser texten können. Oder Luther. Oder Brecht. Wobei der ein besseres Gefühl für Dramaturgie gehabt hätte. Es ist nämlich so: Die einzelnen Artikel fangen immer ziemlich stark an – z.B. Artikel 16a: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Vier Worte! Und dann folgen weiter vier Absätze mit 154 Worten, die erklären, warum das dann vielleicht doch nicht der Fall ist. Diese dramaturgische Schwäche zieht sich durch.

Dazu kommen elende Redundanzen. Oft enden die Artikel mit dem Satz »Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.« Wenn das als eine Art Refrain gedacht ist, dann funktioniert es schlecht. Richtig merkwürdig wird es an Stellen, wo der Text mit der erlebten Realität nicht ganz deckungsgleich ist. Artikel 12a, Absatz 2 »Wer aus Gewissensgründen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert, kann zu einem Ersatzdienst verpflichtet werden. Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen.« Ich erinnere mich aber, dass ich dreizehn Monate Zivildienst abgeleistet habe, während meine Freunde nach neun Monaten aus der Kaserne zurück waren. Im Text finde ich nichts, was diese Diskrepanz erklären könnte. Ein weiteres Mysterium sind die entfallenen Artikel des Grundgesetzes. Das merkt man an der Nummerierung. Die Artikel 49, 59a, 74a, 75, und 142a fehlen. Auch den Artikel 23, der den Beitritt zum Bundesgebiet regelt, der also beim Beitritt des Saarlandes, Sachsens, Thüringens, Brandenburgs Sachsen-Anhalts, Mecklenburg-Vorpommerns zum Bundesgebiet möglich machte, suchte ich vergebens. Er wurde nicht mehr gebraucht, offenbar waren die Länder ausgegangen, die zur Vollständigung der Bundesrepublik gebraucht wurden. Er wurde deshalb von einem neuen Artikel 23 überschrieben, dass den Grundsatz der Subsidiarität benennt – darüber müssen wir später noch sprechen – und den Weg Deutschlands nach Europa zeichnet. Trotz dieser fast ägyptisch anmutenden Überschreibung des Artikels 23 finden sich im Text noch »fossile« Passagen, die die deutsche Teilung thematisieren. Artikel 146: »Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« Wenn es so weit ist, dann lasst uns noch ein wenig Worte klauben. Was wäre ein zeitgemäßen Ausdruck für »Post- und Fernmeldegeheimnis«? Und: Wie wäre es, wenn wir Brechts Vorschlag folgten, für einen Moment statt vom deutschen Volk von der Bevölkerung Deutschlands zu sprechen?

Bis es aber so weit ist, müssen wir uns zum bestehenden Text bekennen. An ihn glauben. Den­n tatsächlich hat die Verehrung des Grundgesetztes, wie sie in Beeskow 2019 praktiziert wurde, religiöse Züge. Schuld, Sühne, Vergebung spielen dabei eine nicht unterschätzende Rolle. Deshalb zählte zu den Gästen auf der Burg Beeskow auch Margot Friedländer, die ihre Mutter und ihren kleinen Bruder in Auschwitz verlor, während sie in Berlin untertauchte und Theresienstadt überlebte. Den Holocaust zu leugnen und sich zum Grundgesetz bekennen – das schließt sich aus, denn zwischen seinen Zeilen steht: Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus.

All das hatte man in Beeskow sensibel erkannt, ein sorgfältig vorbereitetes Fest ausgerichtet und trotzdem einem großen Teil des möglichen Publikums vor den Kopf gestoßen. Der Landrat lud ein, 70 Jahre Grundgesetzt zu feiern. Und viele, für die dieses Gesetz an diesem Tag erst seit 28 Jahren, sieben Monaten und 19 Tagen galt, fühlten sich nicht gemeint, nicht gesehen, nicht eingeladen. Mit ihrer – der lokalen – Demokratie-Erfahrung nicht wahrgenommen.

2.

Es ist das vermaledeite Erbe des Artikels 23 des Grundgesetzes in seiner Fassung von 1949: Statt einer Wiedervereinigung – auf Augenhöhe – kam es zu einem Beitritt. 17 Millionen Staatsangehörige der DDR migrierten en bloc in eine ihnen fremde Gesellschaft, an deren Maßstäben sie sich seither messen lassen müssen. Die eigenen Erfahrungen – auch die der Demokratisierung in der DDR, die nicht erst im Herbst 1989 begann – spielten dabei keine Rolle. Die politische Landschaft wurde nach westdeutschem Vorbild nachgebastelt, aber Parteien, Kirchen, Gewerkschaften konnten nie die Rolle erlangen, die sie dort spielen. Die politische Willensbildung blieb im Osten, wo die Demonstrationen für die politische Öffnungen oft nahtlos in die Demonstrationen zur Erhaltung der Betriebe übergingen, ein Straßenkind.

Wie sehr die handwerklichen Fehler des Vereinigungsprozesses nachwirken, zeigt sich auch beim Blick auf die Regionalzeitungen. Es gab 1989/90 zahlreiche Versuche, Zeitungsprojekte zu etablieren, die mit neuen Formen von Redaktion und Vertrieb experimentierten. In Thüringen zum Beispiel gründete der Schriftsteller Ingo Schulze den Altenburger Anzeiger, in Berlin-Mitte initiierte der Runde Tisch den Scheinschlag. Solche Zeitungen hatten nie eine Chance gegen die ehemaligen Bezirkszeitungen der SED. Diese wurden von westdeutschen Medienhäusern übernommen, neu frisiert und blieben Monopolisten in ihrem einstigen Verbreitungsgebiet. Wenn man diese in Brandenburg nachzeichnet, erscheinen die Grenzen der Bezirke Potsdam, Frankfurt/Oder und Cottbus. Das ist tragisch, denn selbst eine Zeitung wie die Lausitzer Rundschau, die für ihre Aufdeckung korrupter Netzwerke in Cottbus vielfach ausgezeichnet wurde, schafft es nicht, ihren Spottnamen aus DDR-Zeiten abzuschütteln: LR – Lügen-Rudi.

3.

Wer wissen möchte, wie etabliert die demokratische Organisation eines Staates ist, zieht dazu gern die Wahlbeteiligung heran. Sie hat einen Vorteil: Sie ist zählbar und gut dokumentiert. Bei der Bundestagswahl 2021 liegt der Wahlkreis Frankfurt (Oder) – Oder-Spree mit 74,4% deutlich vor Frankfurt/Main I mit nur 72,1%. Bei Kommunalwahlen ist die Wahlbeteiligung im Osten Deutschlands seit 2018 deutlich höher als im Westen. In der Gemeinde Tauche bei Beeskow – zu der Falkenberg, wo ich wohne, gehört – lag sie 2019 bei 64,4%. Es gewann die Liste der Freiwilligen Feuerwehr mit 830 Stimmen weit vor allen im Bundestag vertretenen Parteien. Am stärksten schnitt noch die CDU mit 466 Stimmen ab – immerhin eine Stimme mehr als die Liste der Ludwig-Leichhardt-Gesellschaft. Das starke Abschneiden lokaler Wahlbündnisse und Wählervereinigungen ist typisch für Kommunalwahlen im Osten Deutschlands.

Vor 1990 wählten in Falkenberg 143 Einwohner 23 Vertreter in den Rat der Gemeinde. Es gab immer so viele Kandidaten wie Sitze und als Reserve fünf Nachrücker – keine Legislatur ohne Todesfall. Der Rat des Kreises Beeskow schlug aus diesen 23 einen als Bürgermeister vor. Um den Führungsanspruch der SED auch auf den Dörfern durchzusetzen, waren Genossen für diesen Posten prädestiniert. Im Falle von Falkenberg war es zuletzt eine Genossin, der eine Gemeindesekretärin zur Seite stand. Diese zwei vollen Stellen kümmerten sich um alles: Die Gemeindewohnungen, die Beantragung und Auszahlung von Sozialleistungen wie Kindergeld und Heizkostenzuschüssen, den Schulbus, das Abernten des Straßenobstes, den Jugendklub der FDJ neben dem Friedhof, die Bewilligung von Bauanträgen. Baute jemand schwarz, floss die Strafe in die Gemeindekasse und zum 7. Oktober wurde ein Wildschwein gegrillt. Das war keine Idylle. Der Staat war fürsorglich bis zu Übergriffigkeit. Eine Wahl hatte man nicht und wer seinen Stimmzettel erst am Nachmittag ausfüllte, bekam keine Baugenehmigung. Aber in die Entscheidungen im Dorf waren vergleichsweise viele involviert. Wenn es gelang, Investitionsmittel zu ergattern, konnte dies die Lebensqualität spürbar verbessern. So wurde das Dorf in den 1980er Jahren an die Wasserversorgung angeschlossen – zuvor fielen in heißen Sommern immer wieder die Brunnen trocken. Noch 1988 gelang es, die kaputte Kopfsteinpflasterstraße zu erneuern und die Linden durch einen gepflasterten Fußweg zu ersetzen. Die Bushaltestelle war nun – selbst im Winter – ohne Gummistiefel zu erreichen. Mit sauberen Schuhen in die Kreisstadt fahren zu können, ist auch ein Stück Menschenwürde.

1990 wählte das Dorf dennoch einen neuen Bürgermeister aus nun nur noch acht Gemeindevertretern. Der Bürgermeister arbeitete im Ehrenamt und wurde von einer Sekretärin unterstützt, deren Gehalt dem Budget des Ortes entsprach. Für die Einwohner von Falkenberg entstanden nun keine Gehwege, sondern eine Hauptsatzung und eine Geschäftsordnung. Ehemaliger Gemeindebesitz – also Feldwege, das ehemalige Schulhaus und der Schulacker, der einst dem Lehrer zur Subsistenzwirtschaft diente – wurden dem Ort rückübertragen.

»Viel Arbeit und von nüscht ‘ne Ahnung.« fasst es der ehemalige Bürgermeister zusammen. Er wurde nie abgewählt. Aber seit 2002 ist Falkenberg Teil der Großgemeinde Tauche – er ist deshalb nur noch Ortvorsteher und bildet zusammen mit zwei weiteren Falkenbergern einen Ortsbeirat. Dessen Frauenanteil beträgt 33% – 34,8% sind es im aktuellen Bundestag. Der Ortsbeirat verwaltet ein Budget von gut 900 Euro jährlich – drei Euro pro Einwohner für Heimatpflege, zwei Euro pro Einwohner für Rentnerbetreuung.

In der Großgemeinde mit 3784 Einwohnern hat die Stimme des Ortsbeirates nicht viel Gewicht. In der Gemeindeversammlung hat er nur ein Vorschlagsrecht. Eigene Interessen wirkungsvoll einzubringen, ist nur dann möglich, wenn es gelingt, einen Einwohner des Ortes direkt in die Gemeindeversammlung zu wählen. Aber selbst wenn sich alle 189 Falkenberger auf einen Kandidaten einigen könnten und auch die Säuglinge mit abstimmen würden, dürfte das knapp werden. Deshalb ersann man die Liste »Kleine Dörfer – Falkenberg« und machte sich zum Anwalt der Kuhkäffer. So reichte es für einen Sitz. Das ist entscheidend, denn Ortsteile, die seit Jahren ohne Stimme in der Gemeindevertretung sind, zeichnen sich durch eine deutlich geringere Wahlbeteiligung und eine Neigung zum Extrem aus. Auch bei Bundestagswahlen.

Im Artikel 23 des Grundgesetzes ist, im Bezug auf die Europäische Union, das Prinzip der Subsidiarität verankert. Das bedeutet: Was immer sinnvoll auf einer niedrigeren Ebene des Staates geregelt werden kann, soll dort bearbeitet werden. Ich würde mich freuen, wenn wir diesen Verfassungsgrundsatz auch auf kommunaler Ebene umsetzen könnten. Verwaltungsgemeinschaften, Großgemeinden und die Abgabe von Verwaltungsaufgaben an die Kreise sind kein Beitrag zu einer demokratischen Kultur im ländlichen Raum. Sie degradieren Bürger zu Betroffenen von Entscheidungen, die über ihre Dörfer hinweg getroffen wurden. Sie sind eine Form der Entmündigung.

4.

Die Außenperspektive auf die politische Kultur und die Zivilgesellschaft auf dem Land ist nicht schmeichelhaft. Meine Studenten sind zum Beispiel der Meinung, es gäbe dort zu wenig »diversity«. Aber ich kenne keinen Ort in Berlin, wo Menschen eines so großen sozialen Spektrums miteinander kooperieren. Schon weil sie sich nicht aus dem Weg gehen können. So breit ist der Gehweg, für den die Linden geopfert wurden, nicht. Um eine »sharing economy« zu entwickeln, braucht es hier keine app. Alle wissen, wer einen Traktor hat oder eine Motorsäge verleihen kann und im Zweifelsfall findet man immer jemanden, der kurz mit anpackt. Freilich beschränkt sich diese Interaktion auf die Wochenenden. Die LPG, wo fast die Hälfte des Dorfes arbeitete, gibt es nicht mehr. Es gibt keinen Laden, vor dem man gemeinsam herumstehen könnte. Die Kneipe schloss vor einem Vierteljahrhundert. Es gibt eine Bushaltestelle – wo niemand steht, der älter als 16 ist – , einen Briefkasten – in den nicht alle hineinpassen – und eine Schautafel – wo die Waldbrandwarnstufe angezeigt wird. Den sozialen Zusammenhalt organisiert der Dorfklub. Es war am Tresen des Dorfklubs, wo ich in eine leidenschaftliche Debatte über Vor- und Nachteile des imperativen und des freien Mandats verwickelt wurde. Diese Diskussion hatte keine Auswirkungen auf das Grundgesetz. Noch nicht. 

27. Juni 2023