Die Seele und die Sesshaftigkeit

...sodass die Zeit, die wir im Herzen tragen können, etwas gedehnt ist und wir ab und zu durch einen Spalt in die Ewigkeit schauen können.

Meine Kirche liegt inmitten eines Friedhofs. Er ist von vielen alten Bäumen beschattet, in denen im Frühling der Pirol singt. Die Gräber sind über das Gelände verstreut, manche gepflegt, andere schon eingewachsen. Es gibt einige alte Familiengräber, deren eiserne Einfassungen in den letzten Jahren gestohlen worden sind, wie auf fast allen Friedhöfen im Oderbruch. Hinter der Sakristei, dort, wo die Kirche ins Tal schaut, liegt übrigens der Vater Theodor Fontanes begraben, ein Prominenter sozusagen, dessen Vorname Henri allerdings von einem Steinmetz, der offenbar sicher gehen wollte, die französische Aussprache nicht zu verfehlen, „Hanri“ geschrieben wurde. Darüber schmunzelt man irgendwann nicht mehr, man denkt vielmehr daran, dass es auch schon im 19. Jahrhundert Menschen gab, die es im Leben schwer hatten, und die schließlich im Oderbruch eine Nische fanden, um ihr kleines Dasein zu fristen.

Der Friedhof bietet so viel Platz, dass auch Höhepunkte des Gemeindelebens hier stattfinden können, die nichts mit der Totenruhe zu tun haben. Gerade haben wir ein Kirchweihfest gefeiert und mitten auf dem Friedhof Theater gespielt. Nach der letzten Osternacht saßen wir unweit der Gräber nachts am Feuer. Und in der Coronazeit haben wir vor der Leichenhalle ein Konzert gesungen. Leichenhalle, so heißt das hier, denn in der Tat wurden diese Häuser gebaut, um die Gestorbenen im kühlen Keller dieser Gebäude möglichst lange aufbewahren zu können und so die Verwesung zu verlangsamen. 

Ich habe nie das Gefühl, dass es respektlos ist, auf diesem Friedhof zu singen oder zu lachen. Wir pflegen dieses Stück Land, diesen Gottesacker, es gibt gemeinsame Arbeitseinsätze und immer wieder Diskussionen darüber, wie man am besten alles in Schuss hält und wie gepflegt alles sein muss, wie großzügig man sein darf, und was mit den alten Bäumen ist. Einige davon mussten wir fällen, aber ich habe vor Jahren einmal ordentlich nachgepflanzt. Heute staune ich, wie entschlossen die neuen Bäume sich in den Himmel recken.

Christian hat jahrelang den Hang gemäht, der alte Otto repariert immer noch die Zäune, Gudrun trommelt zu den Arbeitseinsätzen. So trägt jeder bei, was er gerade kann und mag, seltsamerweise kommt das meistens gerade so hin. Aufgrund der großzügigen Handhabung ist dieses Stück Land auch großzügig zu uns, es ist unsere Allmende, von der wir ein bisschen seelische Nahrung empfangen. Hier wird der Toten gedacht und es wird auch gelebt, und wer gestorben ist, ist dann doch irgendwie dabei.

Gerade haben wir in einer Sommerschule 25 Friedhöfe im Oderbruch aufgesucht. Es war eine Woche mit vielen guten Gesprächen. Wir haben den Vögeln gelauscht und sie bestimmt, die Gräber angeschaut und vor allem den Menschen zugehört, die sich um diese Friedhöfe kümmern. Im Gegensatz zu unserem Friedhof, der scheinbar aus der Zeit gefallen ist, verändert sich die Bestattungskultur auf fast allen Friedhöfen rasant.

Große Familiengräber gibt es kaum noch, nur der Freienwalder Bildhauer Axel Anklam hat in Freienwalde eine solche Stelle für sich und die seinen hergerichtet. Manche dieser alten großen Anlagen sind so prächtig, dass sie Denkmale geworden sind. Es mag am repräsentativen Charakter der großen Familiengräber liegen, dass sie heute kaum noch eine Rolle spielen, denn weder nach innen noch nach außen werden der Zusammenhalt und die Bedeutung einer Familie über den Tod hinaus heute noch beschworen. Ich verstehe das, obwohl ich auch einen kleinen Verlust dabei spüre. Aber Familien sind heute oftmals kompliziertere und offene Gebilde, es ist in den meisten Fällen gar nicht so einfach zu sagen, wer alles dazu gehört.

Stattdessen gibt es nun aber immer mehr Urnengräber, die viel kleiner sind als die alten Anlagen der Erdbestattungen. Der Umschwung ist rasant, auf den städtischen Friedhöfen sieht man große Felder mit den typischen knappen Rastern dieser Grabstellen.

Und nun entstehen auch Urnengemeinschaftsanlagen, bei denen die Verstorbenen nur noch auf kleinen Mäuerchen verzeichnet sind. Der Rest ist Rasen, im Raster durch eingelassene Markierungen aus Granit unterbrochen. Auf den kommunalen Friedhöfen etablieren sich sogar gänzlich anonyme Bestattungsformen, dort findet man also nicht einmal mehr einen Namen. Die Kirchen in der Region akzeptieren das nicht, denn Gott, so steht es bei Jesaja, hat eine individuelle Angelegenheit mit uns zu erledigen, die nicht mit dem irdischen Tod gelöscht sein soll: Und nun spricht der HERR, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Folglich gibt es hier weiterhin die Namen der Menschen, und die Bestattungsform nennt sich (das ist etwas kurios) „halbanonym“.

Da die Verstorbenen hier weiterhin auffindbar sind, werden sie auch besucht, selbst wenn man ihr Grab nicht mehr pflegen kann, weil da eben nichts mehr zu pflegen ist. Und wenn man schon nichts machen kann, will man wenigstens etwas mitbringen. Junge Männer hinterlassen für ihre Kumpels, die bei Auto- oder Motorradunfällen ums Leben gekommen sind, gern eine leere Dose Red Bull. Auch Teddybären oder Engelchen werden abgestellt. Das sieht, vor allem in der Häufung, ganz schön trashig aus, aber zugleich hat das Bedürfnis, das hier sichtbar wird, etwas Anrührendes. Uns wurde ein Grab in einer solchen „halbanonymen“ Anlage gezeigt, das von den Eltern ihres verstorbenen Sohnes mit Topfblumen und einem kleinen Motorrad geschmückt wird, was ja eigentlich hier nicht vorgesehen ist, aber man toleriert es. Dass man Blumen auf das Grab seiner Lieben legt, das ist ja ein alter Brauch, obwohl das hier ja gerade nicht die Idee war.

Ja, was war denn die Idee? Ich denke, es geht bei den reduzierten Grabstellen um den Pflegeaufwand. Die immer kleiner und glatter werdenden Anlagen, manche sogar komplett mit Marmor oder Granit versiegelt, münden zwar schließlich in das völlige Verschwinden des Andenkens, aber dafür machen sie auch keine Arbeit mehr. Das war in Deutschland einst nicht der Normalfall.

Das über viele Jahrhunderte typische Grab in Deutschland ist das einer Erdbestattung. Es ist nicht ganz klein, zwei, drei Quadratmeter vielleicht, und es wird wie ein kleiner Garten angelegt, mit Buchsbaum und vielleicht ein paar Sukkulenten, und dann eben allen möglichen Blühpflanzen, bis hin zu frischen Schnittblumen, die man in einer Vase hinterlassen kann. Ich habe eine Frau auf dem Friedhof eines Oderbruchdorfes dabei beobachtet, wie sie ein Grab pflegte. Sie jätete Unkraut und holte Wasser, goss dann also die Blumen, pflanzte etwas nach und setzte sich schließlich hin, vor das Grab ihrer Lieben – und war still. Wir ließen uns erklären, dass diese Frau der älteste Mensch im Dorf sei und jeden Tag den Friedhof besuche. Und als ich ihr zuschaute, fiel alles von mir ab. Ich stellte mir vor, dass sie an die anderen dachte, die vor ihr gestorben waren, und denen sie folgen würde. Und dass sie das Leben im Angesicht seiner Endlichkeit vielleicht bewusster lebte, als mancher von uns. Jene, mit denen wir das Leben teilen, sind nicht austauschbar. Wenn sie gehen, können wir sie nicht ersetzen. Die Einsamkeit, so dachte ich in diesem Moment, kann auch eine Einsamkeit der Fülle sein.

Aber da diese Form nun selten wird; warum geben die Menschen so etwas preis, so eine wertvolle Verständigung mit sich, mit dem Leben und vor allem mit den Lieben? Ist ein Mensch, der gestorben ist, einfach weg, und kommt es deshalb nicht mehr darauf an?

Ich denke an Falladas „Geschichte vom Goldenen Taler“, in der die kleine Anna Barbara ihrer Großmutter verspricht, sie nach deren Tod auf dem Friedhof „grad zu Häupten von dem Grab Deiner Eltern“ zu begraben und dann nicht wieder nach Haus, sondern in die Welt hinaus zu gehen. Und als es dann so weit ist, bestattet das Mädchen ihre Großmutter und steht nun ratlos auf dem Friedhof, denn: „Nach Haus durfte sie nicht wieder, das hatte sie der toten Großmutter versprochen“. Warum muss man sich an Versprechen halten, die man Menschen gegeben hat, die gar nicht mehr leben?

Meine Großmutter hatte sich übrigens einen weißen Sarg zu ihrer Beerdigung gewünscht. Sie hat ihn nicht bekommen. Daran ist für mich etwas nicht richtig. Ich finde es interessant, dass wir an jene, die gestorben sind, in einer bestimmten Weise gebunden bleiben, jedenfalls, wenn wir das zulassen.

Kann es wirklich sein, dass die Menschen heute einfach zu faul sind, sich um die Gräber ihrer Angehörigen zu kümmern, und deshalb immer kleinere und pflegeleichtere Bestattungsformen wählen? Das ist natürlich zu einfach.

Da ist zuerst der einfache Umstand, dass wir heute nicht mehr über Generationen hinweg sesshaft sind. Die meisten Kinder wohnen an anderen Orten als ihre Eltern, damit geht es los. Während der Besuch am Grab früher im Umfeld des Wohnorts stattfand und somit Teil des Alltags war, ist er heute meist zu einem seltenen Ereignis geworden. Wo man sich nicht um ein Grab kümmern kann, da belastet einen das. Die Menschen haben schlechtes Gewissen, dass sie es nicht schaffen, das Grab ihrer Angehörigen zu pflegen, und schlechtes Gewissen ist auf Dauer nicht gesund. Um nun also die Kinder oder Angehörigen zu schonen, treffen die Sterbenden meist selbst solche Vorkehrungen, mit denen sie den anderen nicht zur Last fallen. Sie schaffen sich selbst aus der Welt, die Spuren, die sie hinterlassen, werden von Jahrzehnt zu Jahrzehnt kleiner. Inzwischen gibt es neue Technologien, mit denen man seinen Körper innerhalb von Wochen vollkommen zersetzen lassen kann.

Dass die Toten in einer zwanglosen Weise unser Leben bevölkern, ist offenbar viel stärker an die Sesshaftigkeit des Menschen gebunden, als mir bisher bewusst war. Die Pflege des Grabes kann wirklich gut nur als Teil des gelebten Alltags bewältigt werden, es ist eine Tätigkeit, eine Praxis, nicht zu ersetzen durch ein herumstehendes Bild oder eine Dienstleistung. Und es ist sehr schwer, diese Praxis an etwas anderem zu entwickeln als eben an einer Stelle, an der die sterblichen Überreste eines Menschen liegen.

Die sterblichen Überreste. Gibt es denn Unsterbliches an uns? Die Christen sagen: ja. Viele andere sagen: Ich weiß es nicht. Heute sagen die meisten wohl: Nein. Und was meine ich?

Wir singen in diesem Jahr mit einem kleinen Chor eine Motette von Johann Sebastian Bach. Sie heißt „Jesu, meine Freude“. Für mich gibt es keine schönere Motette von ihm – obwohl es sich dabei interessanterweise um eine Begräbnismusik handelt. Der Text ringt mit dem Irdischen, seinen Lasten und Demütigungen, um dann umso heller die Vorfreude auf das ewige Leben zu beschwören, die in einer tiefen Gewissheit wurzelt: Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich.

Das alles mag heute von sehr weither kommen. Umso seltsamer ist es, dass wir trotz der großen Entfernung zur christlichen Zuversicht Bachs diese Musik auch heute noch wunderschön finden können, einst gesungen an einem Grab. Was haben wir dem entgegenzusetzen? Anonyme Bestattungen und phrasenhafte Trauerreden, neue Technologien und wachsende Sterilität. Wenn unsere Kultur so viel besser ist in dem, was sie für Aufgeklärtheit hält, warum legt sie dann so eine kulturelle Armut im Umgang mit den Toten an den Tag? Die Friedhöfe, nachdem sie jahrhundertelang gewachsen sind, haben auf einmal unendlich viel Platz, denn die alten Gräber werden abgeräumt, schon aus Sicherheitsgründen, jährlich müssen sich die Steine einem Rütteltest unterziehen. Und wo ein Grab abgemeldet wird, schämen sich die Angehörigen, wenn es ungepflegt ist, und sie lassen es schleunigst abräumen.

Wenn der Mensch eine biologische Maschine ist, dann spricht in der Tat nichts dagegen, ihn am Ende seines Lebens geräuschlos und schnell zu entsorgen. Ich fürchte, dass der ganze transhumanistische Irrsinn, in den wir gegenwärtig getrieben werden, aus diesem Denken kommt: Dass da nichts ist, dass wir keine Seele haben. Dass wir verloren sind, wenn wir uns nicht in einer neuen Form unsterblich machen, mit digitalen Hirnprothesen und einer Spiegelung unseres Bewusstseins im Internet. Mit gentechnischer Optimierung, die in dem Maße beschleunigt wird, in dem die Spuren unseres irdischen Lebens immer perfekter getilgt werden.

Ich glaube nicht, dass das zutrifft, wir sind keine bloße Apparatur, wir haben Teil am Leben, und wir sind einmalig, jeder einzelne von uns, ja: über die uns befristete Zeit hinaus. Ich kann es in eigenen Worten kaum ausdrücken, und es geht mir auch nicht um die Restauration eines Glaubensgebäudes, das wahrscheinlich längst eingestürzt ist, zumindest in seiner gewohnten Form. Aber ich möchte an den großen und schönen Fragen, die von diesen Dingen ausgehen, teilhaben und auch meinen Lieben die Möglichkeit dazu geben, sodass die Zeit, die wir im Herzen tragen können, etwas gedehnt ist und wir ab und zu durch einen Spalt in die Ewigkeit schauen können.

Deshalb bestatte man mich bitte in einem Sarg in einem richtigen Grab. Die Kiste können gern meine Kinder bauen, sie muss nicht lange halten, nur für den Moment des Herablassens. Es wäre schon, wenn dann noch jemand in der Nähe wäre, um das Grab ab und an aufzusuchen. Das kann ich natürlich nicht verfügen; wenn alle wegziehen, kann das Grab einfach gestaltet werden, mit Gräsern und Lavendel. Viel gegärtnert werden muss nach meinem Geschmack nicht, aber ein bisschen was muss man zu tun haben, sonst funktioniert es nicht.

Ich werde da sein.

1. Juli 2024