Mobilmachung

Ich hatte so etwas befürchtet.

Wir hatten da ein kleines Chorprojekt, ein Doppelquartett. Ein paar Vorab-Termine, dann einen ganzen Tag Intensivprobe und schließlich drei Konzerte. Wir sangen Schütz und Bach, Mendelssohn und Brahms, Volkslieder und moderne Chorwerke.

Wir machen das im zweiten Jahr – mit Freude und Liebe, nicht perfekt, aber mit Zuversicht, dass es schön wird, auch für das Publikum, und etwas Mut braucht man auch dazu.

Eine Freundin hatte sich ein Stück von uns gewünscht. Sie hatte in der Sowjetunion studiert und dort in einem Chor gesungen, und nun hatte sie die Noten beschafft und uns gefragt, ob wir das nicht singen könnten? Ein russisches Lied über die Weite und Wehmut der Steppe, komponiert von Georgi Swiridow, einem Schüler Schostakowitschs, aber eher traditionell. Wir probierten es, und es ging gut, und also nahmen wir es ins Programm auf.

Ich dachte noch, na, ob das gut geht und fragte die anderen. Einige sagten, es ist ein Lied, einfach ein Lied, natürlich können wir es singen! Andere sagten, ja, aber wer weiß, wenn das jemand in den falschen Hals kriegt, vielleicht sollten wir noch ein ukrainisches Lied heraussuchen? Zum Ausgleich? Sagten die einen wieder, damit würden wir, in dem Bemühen um Gerechtigkeit, das Stück in den Kriegskontext stellen, das wollen wir doch gerade nicht! Wir schauten dennoch nach einem ukrainischen Lied, ich hatte eines in der Schule gelernt, ich kann es sogar noch auswendig und habe es schon auf der Bühne gesungen, es ist sehr schön, aber es gab auf die Schnelle keinen Chorsatz davon. Und wer weiß schon, ob das Lied wirklich ukrainisch ist, das ist ja viel älter und aus einer Zeit, in der alles anders war.

Nun sangen wir das Stück von Swiridow also im Konzert, hier, in meiner kleinen und an diesem Abend gut besuchten Kirche, gleich nach einer Bach-Motette. Und in den Applaus hinein erhob ein Mann seine sehr laute Stimme und forderte uns auf, sofort ein ukrainisches Lied zu singen, sonst rechtfertigten wir die Mörder. Er sei empört, dass er so etwas in einer Kirche hören müsse. In einer Kirche!

Ich antwortete, wir wollten das Lied nicht zu diesem Krieg singen, es habe damit nichts zu tun, es sei einfach ein trauriges Lied. Ich begriffe wohl, dass er das anders sähe, aber wir hätten auch gar kein ukrainisches Lied zu bieten, vielleicht könne er sich darauf einlassen, das gesungene Stück so zu nehmen: Dass die Russen auch Menschen seien?

Nein, die Ukrainer seien Menschen, die Russen töteten Kinder. Davon ließ er nicht ab. Und er gab auch nicht Ruhe. Es war eine Art Eklat, der erste, den ich in dreißig Jahren in meiner Kirche erlebt habe. Meine Kirche ist ein friedlicher Ort, an dem ich noch nie ein hartes Wort gehört hatte. Wenn man singt, muss man sich öffnen. Wenn man dem Singen zuhört, bereitwillig; dann auch. Es ist schwer, mit so einer Situation fertig zu werden, mitten in einem Chorkonzert, für die Sänger und für das Publikum.

Wir sangen das Konzert zu Ende. Zum Abschied wollte ich etwas Versöhnliches sagen, aber das war ein Fehler, der Mann fing wieder an. Er wollte sich seine moralische Überlegenheit an diesem Abend nicht mehr nehmen lassen. Es wurde laut, Menschen aus dem Publikum mischten sich ein, mit Mühe brachten wir den Abend zu Ende.

Wir sind nicht mehr weit von einem Leben entfernt, in dem die einfachsten und schönsten Dinge zu Waffen werden, oder als solche betrachtet werden.

Ich danke meinen Söhnen für ihren Beistand. Und den Gästen für ihren Zuspruch. Und dem kleinen Chor für seinen Gesang, einen Gesang aus Liebe.

18. Juli 2024