Zeitenwende der Landschaft

Die Schweine tollten im Garten herum und genossen ihren Freigang.

In meiner Jugendzeit traf ich einmal eine alte Frau im Wald. Sie trug ein Kopftuch und eine derbe Schürze, auf dem Rücken buckelte sie einen großen viereckigen Korb zum Sammeln von Brennholz. Sie wirkte wie aus einer anderen Zeit, wie eine Kräuterhexe. Mit ihren knorrigen Händen klaubte sie auf dem Waldboden Zweige und Ästchen zusammen. Ich stellte mir vor, wie sie zu Hause damit einen kleinen Küchenofen anheizte. In diesem Bild steckte die Vorstellung von einer ärmlichen, zähen, aber selbstbestimmten Existenz: Kein Geld für die Fernwärme vom Sozialamt, dafür jeden Tag raus zum Brennholzsammeln.

Als ich in mein Dorf gezogen war, lernte ich einen Mann kennen, der noch Schweine auf seinem Hof hielt. Um sie mir zu zeigen, ließ er sie hinaus. Sie tollten im Garten herum und genossen ihren Freigang. Dann pfiff er, und bereitwillig liefen die Tiere wieder in den Stall zurück. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Der Mann verbrachte offenbar viel Zeit mit seinen Schweinen, und er erzählte mir, dass er aus dem Fleisch eine Bratwurst herstellte, die in der Kammer aufgehängt würde, um dort zu reifen. Erst nach vielen Tagen sei sie richtig gut, man müsse sie unterdessen regelmäßig abwaschen. Ich kannte eine solche Form der Fleischgarung nur aus Indianerbüchern, in denen berichtet worden war, dass die Tatzen der erlegten Bären eingegraben und Wochen später zubereitet würden.

Von unserem Pfarrhaus führt ein kleiner Stichweg direkt den Berg hinauf zur Kirche und zum Friedhof. Er ist unregelmäßig mit alten umgedrehten Grabsteinen befestigt und wächst immer wieder zu, man muss ihn freihalten. Früher gab es viele solcher Wege hinauf in die Höhen, die das Oderbruch einfassen, denn viele Menschen waren zu Fuß in der Landschaft unterwegs und man hatte überall zu tun. Ebenso gab es lauter Stichwege hinunter zur Alten Oder. Das Dorf war in seine Umwelt hinaus vollkommen durchlässig. Heute ist der Kirchweg einer der letzten Pfade, auf dem man das Dorf von der Straße aus verlassen kann. Alles andere ist aufgeteilt in Straßenraum und Privatfläche.

Landschaft ist die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Sie enthält nicht nur Spuren der Vergangenheit wie alte Burgen, Bahngleise oder Kiesgruben, sie bietet auch Winkel und Verstecke, in der die Praxen vergangener Zeiten überdauern können. So bewahrt sie nicht nur ein Gedächtnis, sondern auch eine Entwicklungsoffenheit. Während in der Technologie, in der Kultur oder in der Sprache das Vergehende entweder musealisiert oder vergessen wird, kann die Landschaft Wissen, Können und Vermögen über relativ lange Zeit in lebendiger Form bewahren.

Jahrzehnte, nachdem ich die alte Frau im Wald bei Oderberg getroffen hatte, wurde das Brennholzwerben wieder üblich, natürlich in modernisierter Form, meist mit Kettensäge und Anhänger. Aber noch kurz zuvor hatte man allgemein angenommen, die Öl- und Gasheizungen hätten der Nutzung von selbst geworbenem Brennholz ein für alle Mal ein Ende bereitet.

Die subsistenzwirtschaftliche Haltung von Tieren ist auch nicht vergangen, sie ist vielmehr im Begriff, zu einer echten Nische des Fleischverzehrs zu werden. In dem Maße, in dem das Essen von Fleisch für den Weltuntergang verantwortlich gemacht wird (allem Wissen von landschaftlichen Stoffkreisläufen zum Trotz) wird die beinahe vergangene Selbstversorgung mit Schaf, Schwein, Rind und Geflügel zu einem Residuum, in dem ein bestimmtes Wissen und Können erhalten wird. Wer weiß, wofür es dermaleinst noch gebraucht wird.

Wir werden immer versuchen, den Weg vom alten Pfarrhaus hinauf zur Kirche offenzuhalten. Während an anderen Stellen Verbuschung oder stillschweigende Zäunung der schleichenden Verwandlung des Dorfes in ein Wohngebiet Vorschub leistet, erhalten wir hier einen Weg, der in die Vergangenheit und möglicherweise auch einmal wieder in eine andere Zukunft führt.

Noch immer gibt es im Oderbruch wenige Menschen, die ihre kleinen Äcker mit Pferden bestellen. Sie tun es einfach, und sie haben eine große Geschicklichkeit darin.

Noch immer gibt es Dorfgemeinschaften, die ohne Amt und Verwaltung ihre Friedhöfe unterhalten und ihre eigene Bestattungskultur pflegen. Sie sprechen mit niemandem darüber, sie machen das unter sich aus, während die Medien von Bestattungstrends berichten, in denen jede Erinnerung an den einzelnen Menschen ausgelöscht wird.

Die Imkerei hat sich als ein nicht eben triviales Handwerk erhalten, obwohl der Gewinn gering ist. Es gibt erstaunlich viele Menschen, die Bienen halten und kein Wort darüber verlieren, ganz egal ob es gerade einen Imkerei-Trend in den Städten gibt, oder nicht.

Ich habe einen Nachbarn, der bei der Schlachtung eines Huhns bis auf den Kot beinahe jede Faser des Tieres verwerten kann, die Füße, die Därme, die Federn – eine Fähigkeit aus einer Zeit des Mangels.

Die Jugendlichen in meiner Landschaft schrauben an alten Simsons herum, als läge deren Marktreife nicht vierzig Jahre zurück, denn diese Vehikel haben viele Vorteile gegenüber den gegenwärtigen Modellen. Das schnelle und einfach konstruierte Moped ist ein Garant der jugendlichen Mobilität auf dem Land.

In all dem Alten liegt Freiheit, denn so lange es noch zu finden ist, erfahren wir an ihm, dass die Dinge nicht immer so sein müssen, wie sie derzeit über uns kommen. Wir können uns andere Möglichkeiten denken und wir wissen, dass die Not in schweren Zeiten erfinderisch macht, weil man vieles selbst tun kann.

Überdauernde Strukturen in der Landschaft bieten übrigens auch ökologische Nischen für alle möglichen Lebewesen. Mein Freund Peter Herbert hat über Jahrzehnte Käfer gesammelt und bestimmt. Im Oderbruch, dieser als ausgeräumte Agrarsteppe gescholtenen Landschaft, fand er zahlreiche Urwaldreliktarten, die auf der roten Liste stehen. Das ist ein Indiz dafür, dass die Landschaft ihre Heterogenität erhalten hat, sodass die Organismen für den Fall, dass sich die Dinge wieder ändern, schnell reagieren und den Raum neu besiedeln können. Es gibt uralte Kopfweiden, schlammige Wasserlöcher, verschlungene Gehölzinseln, denn in unserer Gegend herrscht eine gewisse Toleranz gegenüber extensiven Fleckchen im Landschaftsmosaik. Hier wohnt eine Vergangenheit, die auch eine Zukunft sein könnte.

Alte Häuser haben eine gewisse Ähnlichkeit mit so einem alten Baum. In ihnen hält sich auch manches, und sie bieten Möglichkeiten der Neuaneignung. Ihre gegenwärtige Nutzung ist gegenüber der einstigen natürlich sehr verschieden, aber trotzdem kann ich sagen, dass von den alten Gemäuern und den in ihnen gespeicherten Informationen sehr wertvolle Inspirationen für die Menschen ausgehen, die heute in diesen Häusern wohnen.

Die Kriegsspuren in meinem Hof, die Granatsplitter in den Holzbalken der Scheune, die leeren Patronenhülsen im Garten, die Wunden im Dachstuhl und die kyrillischen Buchstaben, eingeritzt in den Giebel unserer Hauswand, all das sind nur stumme Zeugnisse. Aber auch diese sind Formen der Ungleichzeitigkeit, der Erinnerungsmöglichkeit an das, was war, mitten in unserem gegenwärtigen Leben. Ich habe mit der Familie, die uns ihr Haus verkauft hat, darüber gesprochen, wie es damals war, zum Ende des Krieges. Ihre Berichte sind Teil meines Bewusstseins, wenn ich täglich in den Garten schaue oder wenn ich die Nachrichten von den neuen Kriegen höre.

Im neu hergerichteten suburbanen Raum gibt es keine Kriegsspuren mehr. Alles geht hier in der Funktionalität der Fläche auf, in der entweder gewohnt oder gearbeitet oder die Natur geschützt wird, in der Waren verladen werden oder Strom erzeugt wird. Aus der Landschaft wird die Betriebsfläche, die einem einzigen Zweck untergeordnet ist. Alles andere wird getilgt. Hier herrscht die völlige Gleichzeitigkeit, es gibt kein gestern und kein morgen.

Die Rede von der Alternativlosigkeit des politischen Handelns erhält auf diese Weise ihren adäquaten räumlichen Ausdruck. Es ist alles so, wie es ist. Was einst war, spielt keine Rolle, was einst sein wird, bestimmen andere. In solchen Räumen werden wir all dem ausgeliefert, was über die Gesellschaft Macht gewonnen hat. Es gibt hier keine Verstecke mehr.

Vor einiger Zeit wurde im Bundestag von einer Zeitenwende gesprochen. Vorausgegangen war die Rede von der großen Transformation, das kurze Schlagwort hieß CHANGE, es wird noch immer hier und da mit Emphase verkündet.

Die Folgen stellen sich schon ein: Wir verlernen die Sprache des Friedens und erleben eine schleichende Mobilmachung. Die Stätten der Kriegserinnerungen geraten unter Druck, sie müssen sich rechtfertigen oder ihre Botschaften relativieren. Die alternative Medizin gilt plötzlich als Hort der Unvernunft, es soll keine Kräuterhexen mehr geben und sogar die Heilpraktiker werden verdächtig. Auch die Ernährung der Menschen wird zu einer politischen Angelegenheit, in der definiert wird, was noch in die Zeit passt. Man isst nicht einfach so, man soll so essen, wie es nun angesagt ist. In den Häusern sollen die Heizungen ausgetauscht werden, die Menschen schweigen sich über ihre häuslichen Bedingungen aus, weil sie fürchten, gegen etwas zu verstoßen, das sie nicht verstehen. Selbst das eigene Haus ist nicht mehr geeignet, sich vor Entwicklungen, die als allgemeingültig bezeichnet werden, zurückzuziehen; überhaupt gerät das Leben in Einfamilienhäusern unter Verdacht, am Klimawandel Schuld zu sein, auch dieses sei: nicht mehr zeitgemäß.

Offen gestanden habe ich das Bedürfnis, mich vor diesen Entwicklungen zu verstecken. Ich möchte nicht ins Zeitgemäße, es widerstrebt mir. Aber wo soll ich hin?

Die Landschaften habe ich wegen ihrer Ungleichzeitigkeiten lieben gelernt. Seit ich mich mit ihnen beschäftige, habe ich das Gefühl, dass sie uns klug machen, wenn wir uns mit ihnen beschäftigen, an Ort und Stelle. Wir bewohnen sie mit denen, die vor uns hier waren und wir versuchen, sie jenen, die nach uns kommen, zu übergeben, mit dem, was in ihnen gespeichert ist, was wir von ihnen wissen. Alle Menschen, die eine Beziehung zu ihrer Landschaft haben, wissen, dass die aggressive Tilgung des Alten in eine Sterilität des Raums führt. Die Schönheit und Weisheit der Landschaft entfaltet sich nur dort, wo Herz und Sinn für ihre Relikte möglich sind. Alles ändert sich, die Gestalt wandelt sich, aber das Alte braucht dennoch seinen Platz. Wer weiß, ob man es noch einmal benötigen wird, sei es zur praktischen Neuaneignung, sei es zur Erinnerung und Selbstreflexion.

Deshalb fürchte ich mich vor der sterilen Begradigung der Landschaft, vor den großen und vollkommen homogegen und eingezäunten Photovoltaik-Meeren und vor den Windfeldern. Vor der Vergröberung der Muster, vor der großen Zeitenwende, die blind gegen alles ist, was war und noch zu erkennen ist und vor allem blind gegen ihre eigenen Kosten. Die Landwirtschaft ist längst nicht mehr Treiber dieser Entwicklung, es ist inzwischen die Energiepolitik, und es ist der enorme Standardisierungsdruck, der von der ständigen Unterscheidung unserer Wirklichkeit in zeitgemäß und unzeitgemäß ausgeht.

Standardisierung und Eingriffe in die Landschaft gab es schon immer. Ihre Wucht hing von den Technologien ab. Und die Technologien werden im Verlauf der Geschichte wirkmächtiger. Und nun ist eine Technologie im Vormarsch, die nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit der Landschaft ins Visier nimmt. Denn deren Wirklichkeit wird durch die Digitalisierung synchronisiert. Wir reden hier nicht mehr über große Ackerschläge oder Autobahnen, über Bagger und Planierraupen, wir reden über ein Informationsnetz, das die Ungleichzeitigkeit des Raums viel aggressiver zu glätten vermag, als es die Überformung durch physische Eingriffe je erreichen konnte.

Ja, wir streben alle nach einer guten Netzabdeckung, und alle werden wir nun an die schnellen Leitungen angeschlossen. Natürlich kann man die globale Kommunikation auch nutzen, um auf die Ungleichzeitigkeit der Landschaft hinzuweisen. Man kann bei Instagram alte Bäume posten. Aber hilft das, so frage ich mich, wenn die Räume einer gemeinsamen Taktung von Information und Geltung unterworfen werden? Nichts darf vergessen werden, alles muss ans Netz. Das läuft meinem Verständnis des Landschaftlichen als einer tolerierten Ungleichzeitigkeit zuwider. Wir selbst werden angeschlossen, wir schließen uns an mit all unserer Wahrnehmung und unserem Denken, und somit schließen wir auch unsere Nischen und Verstecke an. Niemand kann sich mehr zurückziehen, denn wir sind immer am Puls der Zeit, und wir werden immer und überall gesehen. Jottwehdeh, das war einmal.

Auch die Dorfkirchen wollen übrigens dringend an die schnellen Glasfasernetze angebunden werden, man möchte nicht zurückbleiben. W-LAN Hot-Spots für Gottes Kinder! Ich würde gern einwenden, dass die Kirchgebäude vielleicht bald die letzten Häuser sind, in denen wir Raum und Zeit ausgesetzt sind, ohne uns davonscrollen zu können. Ihre Abgeschiedenheit könnte wertvoll sein. Es wäre vielleicht sogar umgekehrt ratsam, die Kirchen gerade gegen das Internet abzuschirmen! Das Heilige ist nicht digital, es entsteht an der Stelle, an der die Sinne und das Transzendente zusammentreffen. Will man es vernichten, hole man sein Smartphone aus der Tasche.

So stehe ich in meiner Landschaft und höre den Vögeln zu, die eigentlich gar nicht mehr da sein dürften, denn die Umweltdiskurse behaupten ununterbrochen, die Agrobiodiversität in Mitteleuropa sei schon vernichtet worden. TIME OVER heißt ein aktuelles Buch über die „verlorene Biodiversität in Feld und Flur“, es schwört uns auf den großen Wandel ein, in dem es offenbar nicht mehr darauf ankommt, selbst in der Landschaft seine Sinne zu mobilisieren und einen Nistkasten aufzuhängen, sondern den großen Maßnahmen zuzustimmen. Ich höre Wachtel, Grauammer und Waldohreule, als riefen sie aus der Vergangenheit. Sie sind noch da, aber in unserer Kultur wurden sie bereits abgeschafft.

So erging es auch meinem Freund Peter. Jahrzehntelang hatte er seine Käfer-Funde in den einschlägigen Fachzeitschriften angezeigt, nun wollte man seine ziemlich sensationellen Berichte nicht mehr haben. Das sei nicht zeitgemäß, hatte ihm die Redaktion geantwortet. Es ist nicht zeitgemäß, seltene Tiere zu finden, die es nach Lage des Diskurses gar nicht geben dürfte.

Ich werde die Energiewende nicht aufhalten und auch nicht das schnelle Internet,und offenbar auch nicht die apokalyptischen Diskurse, in denen die Menschen vor lauter Angst willfährig werden. Aber Leute, wenn wir nicht morgen in einer schönen neuen Welt aufwachen wollen, müssen hinsehen und hinhören. Ins Früher, ins Heute, ins Morgen!

4. Juni 2024