Wir waren bei einem kleinen Musikfestival in Schweden, im småländischen Korrö. Seit Jahren wollte ich das einmal erleben, aber wir verfehlten es immer knapp, obwohl wir schon oft in der Nähe waren. Dieses Mal legten wir den Urlaub so, dass die Festivaltage auf jeden Fall darin liegen würden. Es ist ein Volksmusikfest, aber in deutschen Worten klingt das nicht richtig, und auch das englische Folk Music trifft es nicht ganz, denn in jedem Land hat die Rede vom Volk und allen damit im Zusammenhang gebrauchten Begriffen einen anderen Klang angenommen. In Deutschland versteht man unter Volksmusik immer noch einen industriell gefertigten Hallenschlager, das englische Folk Musik hat große Schnittmengen mit dem liedhaften Pop. Die Schweden sagen Folkmusik, und so will ich es hier auch nennen. Gemeint ist eine Kultur, die aus einer ländlichen Welt stammt, die in den arbeitenden Menschen und ihrer Lebensweise wurzelt, in der also tägliches Tun, Gemeinschaft und Feiern ein magisches Dreieck bilden. Die sozialen Grundlagen dieser Kultur sind verschwunden, aber die Kultur gibt es noch. Das interessiert mich.
Das Fest dauert drei Tage und geht jeweils bis weit in die Nacht, denn es wird viel getanzt. Es wird seit vierzig Jahren hier veranstaltet. Ich weiß nicht, wie viele Besucher die Statistik zählt, würde sie aber auf etwa 2000 schätzen. Doch auch der Begriff Besucher ist nicht ganz passend, denn mindestens die Hälfte der Leute hat selbst ein Instrument dabei, meistens sind es Geigen, aber auch Flöte, Akkordeon, Trommel, Gitarre, Nyckelharpa oder Drehleier sind dabei. Andere kommen, um drei Tage durchzutanzen. Auf der Brücke stehen kleine Kinder und spielen für ein paar Kronen im Hut. Diese vielen Menschen, sind sie Publikum oder Mitwirkende? Auf jeden Fall sind alle Generationen vertreten, man sieht Alte, die schon unsicher zu Fuß sind, aber auch Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und solche in ihren Fünfzigern und Sechzigern.
Bei verschiedenen Workshops werden Musik und Tanz vermittelt, aber auf dem ganzen Gelände bestimmen die spontanen Zusammenkünfte der Musikanten an Tischen und Bänken, auf der Wiese oder unter Bäumen, das Bild. Hier wird miteinander drauflos gespielt. Die Konzerte, manche auf einer Hauptbühne, andere in Scheunen, alten Mühlen oder in Zelten, setzen dem Ganzen eine Krone auf. Sie reichen von traditionellen skandinavischen Liedern und Tänzen bis zu Ausflügen ins Crossover oder in die Weltmusik. Aber man sollte nicht denken, dass die Konzerte das Eigentliche sind, der Rest also nur Beiwerk. Denn da die meisten Menschen bei diesem Festival selbst musizieren, stellen die Konzerte eine Art Auszeichnung dar: Diesen dort, die im Übrigen in diesen Tagen auch ganz „profan“ zum Tanz aufspielen, hören wir nun einmal konzentriert zu, dafür bekommen sie eine Bühne. Aber sie gehören dennoch zu den anderen, die Festivalgemeinschaft zerfällt nicht in Publikum und Künstler. Die meisten Musiker habe ich während des gesamten Festivals unter den anderen gesehen. Alle lernen, alle spielen.
Über die Theorie der schwedischen Folkmusik kann ich nichts sagen, ich kann nur beschreiben, was ich gehört und empfunden habe. Die verschiedenen Instrumente und Stimmen treten in vielen Fällen nicht als Polyphonie in Erscheinung. Das musikalische Geschehen geht vielmehr zunächst aus dem synchronen Spiel hervor, es entfaltet sich über lange und manchmal verstiegene Läufe: alle zusammen und alle erstmal das Gleiche. So kenne ich es auch vom Irish Folk und ich meine, auch in der arabischen Musik ist es das bestimmende Moment. Das hat eine Logik, wenn man die Musik vom Ersten her denkt; der mit einer musikalischen Idee vorangeht und die anderen zum Mitspielen einlädt. Ich habe nicht einen Musiker mit Noten gesehen, man muss hören, mitspielen und mitsingen, dann geht es offensichtlich, manchmal übrigens in aberwitzigem Tempo.
Erst aus dem synchronen Spiel entstehen die Abweichungen, wachsen Mehrstimmigkeit, Abwechslung und Komplexität. Deshalb gibt es in den traditionellen Formen auch keinen Bass wie in der Popmusik, der von vornherein als Kontrapunkt aufgebaut wird. Die Musik entfaltet sich nach und nach zwischen den Menschen, durch Klang und Rhythmus, sie ist ein dynamisches Band, das eine Gemeinschaft formt und den Einzelnen nun zugleich die Möglichkeit bietet, hervorzutreten, dann wieder anderen Raum zu geben, gemeinsam Höhepunkte zu erreichen, bis das Ganze schließlich… ja, eben nicht in einem Finale endet, sondern einfach aufhört, um dem nächsten Stück Platz zu machen. Eine fulminante Coda für den Schlussapplaus ist nicht das Ziel dieser Musik, die entscheidenden Momente liegen davor, im gemeinsamen Spiel. Denn es geht hier nicht primär um ein Publikum, das zu begeistern ist.
Ist diese Musik traurig oder fröhlich? Ja, es gibt helle und dunkle, verrückte und lustige Lieder, es gibt schielende, grinsende, weinende und betrunkene Stücke. Aber bei den eindrücklichsten Konzerten dieser Tage hätte ich gar nicht sagen können, welche Stimmung da eigentlich gerade erzeugt wird, denn diese enthielten buchstäblich alles auf einmal; Witz, Kühnheit, Liebe, Endlichkeit, Ermattung und Spott. Ich hatte die ganze Zeit ein Ziehen in der Kehle, als wollten sich das Lachen und die Tränen zugleich entladen. Aus den retardierenden Momenten blitzten Harmoniewechsel auf, von denen mir im besten Fall gar nicht klar war, wohin sie führen würden, und auch die Rhythmen enthielten Wendungen, die sowohl den Spielern als auch den Zuhörern oder Tänzern eine ständige Geistesgegenwart abverlangten.
Das gilt auch für die zeitlichen Assoziationen, die diese Musik weckt. Man ist mit ihr in allen Zeiten gleichzeitig, steht manchmal mit einem Bein im Mittelalter und mit dem anderen in der absoluten Gegenwart (so beim Zusammenspiel von Folke Dahlgren auf dem Dudelsack und Bruno Andersen mit der Drehleier), der Sound und das musikalische Geschehen sind vieldeutig, abgründig, und je länger man ihm folgt, umso klarer wird, dass es sich um ein musikalisches Zwiegespräch zwischen zwei lebendigen Menschen handelt. Selbst bei alten Stücken hat man deshalb den Eindruck, alles sei neu und gerade erst in diesem Moment erfunden. Und auch da, wo formal offener und experimenteller gespielt wird, ist es ein Gang in die Vergangenheit und zugleich in die Zukunft. Die jungen Musiker von Tvesôvla türmten fokussiert und klar und ohne jede Manier ein Klanggebilde auf das nächste, und sie ließen alles Subkulturelle, das dieser Szene anhaften mag, und welches ihr manchmal eine gewisse Schrulligkeit aufzwingt, weit hinter sich. Sie wussten genau, was sie wollten; keine Attitüde, sondern klar bestimmte Schwingung durch musikalische Interaktion, gebaut auf Können und Hingabe.
Am letzten Abend gab es nach dem letzten Konzert einen gemeinsamen Auszug vom Platz vor der Bühne hin zum großen Tanzboden. Die Spieler gingen voraus, die anderen folgten, dann wurde im Kreis getanzt und gesungen, mit Klein und Groß, Jung und Alt. Ich stand am Rand, staunend und bewegt.
Und ich fühlte mich auch ein bisschen fehl am Platz, denn diese Kultur ist zum Mitmachen gedacht, nicht zum Glotzen. Was hatte ich als Deutscher, der diese Tänze und Lieder nicht kennt, hier zu suchen? Natürlich hätte ich mich dazwischenschummeln können, wenigstens jetzt, zum Schluss, denn der Långdansen (der lange Tanz) ist wirklich ganz einfach, und die Menschen waren alle sehr freundlich. Aber, habe ich das „Recht“ dazu?
Das klingt sperrig, spröde. Vielleicht mach ich beim nächsten Mal doch mit? Ich habe auch überhaupt kein Problem mit kultureller Aneignung, halte sie vielmehr für ebenso normal wie geboten. Aber, das hier ist, so empfinde ich es, bei allem Genuss, eine ernste Sache, es steckt etwas Großes darin. Es ist auch nicht nur, wie in der bürgerlichen Kultur, zur ästhetischen Reflexion gedacht. Diese Musik ist eine Angelegenheit der menschlichen Organisation, der Gesellschaft überhaupt. Wir sind es gewohnt, ins Konzert zu gehen und denen zuzuhören, die es können, aber das hat einen hohen Preis, denn die Trennung in aktive Künstler und passive Zuhörer mündet in eine Statik, statt sich in einer Dynamik aufzulösen. Damit steht die Kunst jederzeit vor dem Verlust ihrer Bedeutung für das Leben selbst, sie droht, zu einem Feld der Unterhaltung und der sozialen Distinktion zu werden – und so wird sie dann auch kulturpolitisch behandelt, als letztes Rad am Wagen. Selbst dem Sport misst man landläufig mehr Bedeutung für die Gesellschaft zu, denn jeder versteht, dass die Menschen auch dort, wo keine Spitzenleistungen erbracht werden, wichtige soziale Erfahrungen machen und miteinander „Gesellschaft bauen“.
Die soziale Idee, die sich in dieser Form des Musizierens und Tanzes entfaltet, ist, davon bin ich überzeugt, eine Quelle der Demokratie, nicht im politischen, sondern im kulturellen Sinn. In ihr ist ein Wissen gelingender menschlicher Interaktion gespeichert, das über lange Zeit gesammelt worden ist. Für den Moment des Spiels und des Tanzes entsteht eine Gemeinschaft, sie ist einerseits egalitär und partizipativ (alle können mitmachen), zugleich aber fördert sie die Entwicklung des eigenen Vermögens und der individuellen Meisterschaft. Ungleichheit und Gleichheit treten in eine Dialektik. Ein solcher Prozess zielt eben nicht auf Vereinheitlichung, wie es das Zeichen des Totalitären ist, sondern er drängt vom Unisono zur Vielfalt, die immer im gemeinsamen (musikalischen) Motiv wurzelt. Der derzeit herrschende Vielfalts-Diskurs dagegen arbeitet genau umgekehrt, er hämmert mit den immer gleichen Postulaten in den immer gleichen Formeln auf die Gesellschaft ein, und die einzigen Möglichkeiten, an ihm mitzuwirken, liegen im immer wieder erneuerten Bekenntnis und in der umso heftigeren Ausgrenzung derer, die nicht mitmachen wollen oder können.
Wie anders dagegen geht es in der Folkmusik zu: Alle sind eingeladen, alle können ihre Stimme finden, aber man kann auch erst einmal schauen und hören – und es gibt zugleich eine Herausforderung, ein Moment des Könnens. Die besten Spielleute geben Melodie und Takt vor. Wer sind die besten? Das hört man, wenn man lauscht, jeder wird neidlos den klaren Strich, den Spannungsbogen, das Ausdrucksvermögen der anderen anerkennen! Außerdem wird den Spielleuten in diesem Land eine soziale Anerkennung verliehen, denn sie können einen besonderen Ehrentitel erwerben, wenn sie zum Riksspelman ernannt werden. Ich habe gelesen, dass diese Würde nur erlangen kann, wer auch die Lieder und Tänze der anderen Spielleute einer Region spielen kann: Eigne dir alles an, was die anderen vor dir schon geschaffen haben, dann bist du reif, etwas Neues hinzuzufügen. Das ist ein altes evolutionäres Prinzip – eigentlich, so möchte man meinen, eine Selbstverständlichkeit.
Das Gegenprinzip zu dieser Form der Tradierung und der damit verbundenen Kontinuität ist die Revolution, das Verwerfen des Alten im Zuge neuer Technologien und Möglichkeiten. Beides gehört wohl zum Menschsein. Aber das Nischendasein dieser einst in ganz Europa verbreiteten traditionellen Musizierformen deutet darauf hin, dass wir mit dem evolutionären Prinzip in der Kultur gebrochen haben, nicht nur in der Musik, sondern auch in anderen relevanten Fragen des Lebens.
Was mich an diesem kleinen Musikfestival so interessiert, das ist also die dahinter liegende kulturelle Herausforderung: Wie kann man etwas in die liberale Gesellschaft mitnehmen, das nicht aus ihr erwachsen ist, das ihr vorausging – und das doch, wenn meine These stimmt (Individualität in Gemeinschaft, Zusammenhalt und Vielfalt) für sie existenziell zu sein scheint? Ob traditionelle Kulturen überleben oder nicht, das ist nicht nur eine Frage des Geschmacks. Dass die Schweden so etwas Schönes, Gemeinschaft Stiftendes, Frieden Schaffendes, klug Machendes, die Menschen Verbindendes ihr Eigen nennen können, kommt nicht von ungefähr, es verdankt sich, seit über zweihundert Jahren, der anhaltenden Pflege und Liebe einer breiten kulturellen Bewegung, die immer wieder neue Impulse aufgenommen hat. Man könnte annehmen, dass es sich dabei um eine konservative Idee gehandelt hat, aber wie das mit konservativen Ideen so ist; wenn sie in die Tat umgesetzt werden, erhalten sie nicht nur Altes, sondern schaffen auch Neues, denn natürlich hat sich diese Musik durch ihre Pflege und Verbreitung immer weiterentwickelt. Sie fließt, wie alles, was lebt.
In Deutschland haben ähnliche Bemühungen diese breite Wirkung nicht entfalten können, obwohl es Phasen gab, in denen man diese Hoffnung hegen konnte. Man macht gern die Nazizeit dafür verantwortlich, indem man behauptet, die Nationalsozialisten hätten durch ihre faschistische Ideologie alle Traditionen ein für alle Mal vergiftet, so sei also auch das Volkslied nicht mehr singbar. Diese Einordnung ist meiner Überzeugung nach zutiefst unwahr. Die Nazis haben überhaupt keine Traditionen geachtet, gepflegt oder auch nur gekannt oder sich angeeignet, weder den Reichtum der Lieder noch der in den mündlichen Erzählungen wurzelnden Literatur, nicht der naiven Malerei oder irgendeiner anderen dem Leben der ländlichen Menschen verbundenen Kulturform. Sie haben lediglich einige wenige aberwitzige Zerrbilder entworfen, in der irgendeine germanische Vergangenheit beschworen wurde, von der nichts bekannt und nichts lebendig war. Die Autopoiesis der Kultur der ländlichen Bevölkerung war ihnen fremd und suspekt. Sie wollten alles zu einer Einheit bündeln, sie wollten die Menschen gerade nicht in ihre eigene Stimme entlassen, ausgehend vom menschlichen Bedürfnis nach Gemeinschaft. Sie taten genau das Gegenteil von dem, was mit Folkmusik gemeint ist. Aber im öffentlichen Bewusstsein wird das nicht unterschieden. Der kulturelle Flächenbrand der Moderne scheint in Deutschland nicht nur von der Nazizeit auszugehen, er geht, und zwar unvermindert und scheinbar immer heftiger, von einem Diskurs aus, in dem alles, was von früher kommt, einfach keine Chance zu haben scheint gegen das revolutionäre Prinzip, nach dem alles anders werden muss und nichts einen Wert hatte.
Ich habe übrigens den deutschen Techno immer als sehr revolutionär empfunden, er wird ja auch international als genuin deutsche Erfindung eingeordnet. Und ja, er ist der radikalste Bruch mit der bis dahin bestimmenden Musikkultur in Deutschland, denn diese war bis dato, selbst im Pop, immer noch in Beziehung zu allem, was vorher war, es spielten Menschen miteinander im Medium der Musik. Dass die synthetischen Beats zwar zum Tanzen einladen, aber die Vielfalt der einzelnen Stimmen zu einem Orkan bündeln, hat mich damals schon beunruhigt, und heute würde ich es so ausdrücken: Eine rein auf Prinzipien der Revolution basierende Kultur führt in den Verlust der gesellschaftlichen Liebesfähigkeit. Diese Fähigkeit gedeiht aber, wo Freiheit aus der Bindung heraus wächst, nicht dort, wo Freiheit die Aufkündigung der Bindung voraussetzt. Wie gesagt, es gibt für beide Spielarten eine Rechtfertigung. Wenn man aber die erste abschafft, werden wir stumpf in allem, was wir tun.
Ich bin nun, Tage nach diesem Festival, immer noch voll bis zum Rand mit Eindrücken und Empfindungen; alles vibriert, schwingt, tönt, summt und singt. Es ist nur eine unter vielen Veranstaltungen dieser Art in Europa, also ist es vielleicht doch etwas mit einem Potenzial. Es steckt etwas Wichtiges in dieser Erfahrung, und ich sollte doch mittanzen, wenn ich schon keine Fidel streichen kann, was im Grunde genommen eine schwache Kür ist.