Kleine Rückenschule

Im Dorf klafft eine Lücke. Es gibt keine LPG mehr, keinen Laden, keine Kneipe. Es arbeitet inzwischen nicht einmal mehr jemand in der Landwirtschaft. Wochentags bewegen sich die meisten mit dem Auto aus zur Arbeit und zurück auf das eigene Grundstück, das manche noch ihren »Hoff« nennen, obwohl die Ställe leer und die Felder verpachtet sind. Ein Gemeinschaftsleben gibt es am Sonnabend. Zum einen, weil dann Werkzeug, Maschinen und Gefährte verliehen werden, weil man einander hilft und zum anderen, weil einzweimal im Monat im Dorfklub gefeiert wird. Besonders im Winter, weil man dann auf dem »Hoff« weniger zu tun hat. Nun ist das Gebäude des Dorfklubs schlicht die alte Schlosserei der LPG, etwas Motorenöl liegt auch nach Jahrzehnten noch in der Luft. Die Halle so groß, dass dort einst zwei Traktoren parallel repariert werden konnten. Ein schöner Raum mit Bühne und Bar. Alles selbstgemacht, kein Fenster gleicht dem anderen. Aber ohne Heizung. Die wäre auch unbezahlbar. Stattdessen gibt es einen gewaltigen Konvektionsofen. Der wärmt den Raum schnell, wenn man ihn mit großen Stücken Holz füttert. Aber der Vorrat daran geht bedenklich zur Neige. Es muss »Holz gemacht« werden. Die Familie S. – die lebten schon vor dem Krieg hier – hat ein kleines Wäldchen, in dem die Oktoberstürme übel gehaust haben. Was umgebrochen ist und schief steht, stiften sie dem Dorfklub. 

Anfang November wird in der Chatgruppe »Dorfklub 1495« zur Holzaktion aufgerufen. 

Als sich zwei Wochen später nur fünf Männer gemeldet haben – davon nur einer unter sechzig – lass ich mich breitschlagen. Bis mittags mach ich mit. Eigentlich hab ich genug zu tun – am »Hoff« und auf dem Schreibtisch – und ich habe gehörig Respekt. Die Freiwilligen mögen nicht mehr jung sein. Aber sie haben ein Leben lang gearbeitet – auf dem Bau, in der Landwirtschaft. Die haben einen Händedruck wie ein Schraubstock. An langen Abenden haben sie sich aus alten Maschinenteilen Holzspalter zusammengeschweißt – eine wilde Kreuzung aus Russenpanzer und Belarus-Traktor, die eigentlich unter das Kriegswaffenkontrollgesetz fallen müsste. Nun packen sie ihre Kettensägen auf den Anhänger und fahren an einem frostigen Novembermorgen mit dem Traktor in den Wald. Ich klappe den Rechner zu und trabe hinterher. 

Als ich ankomme, dröhnen schon die zwei Kettensägen. Wer die Hände frei hat, der lädt auf.

»Heb das ma nich alleene …« werde ich bald ermahnt, als ich mir einen schönen Klotz Kiefer auf die Schulter legen möchte, und ich blicke in verständnislose Gesichter. Kopfschütteln. »Junge …«. Hochgezogene Augenbraunen, die schon etwas grau sind. Ich hätte hier gern einen Beitrag geleistet. Aber nicht mal bei dem Gespräch, dass sich nun zwischen den Holzknechten entspinnt, kann ich etwas beisteuern. Es geht darum, welche Bandscheibenvorfälle man schon hatte. Wie man richtig hebt. Ich sammle kleine Stücke auf und höre gespannt zu. Das Gespräch kreist um die besten Therapien, darum, dass Spritzen nicht dauerhaft helfen. Darum, welche Ärzte, welche Physiotherapeuten zu empfehlen sind. Es ist laut, die Kettensägen brüllen. Auch die Männer brüllen: »Am Ende hilft nur Gymnastik!« Ich traue meinen Ohren nicht.


Wir kommen schnell voran. In aller Achtsamkeit werden gut sechs Kubikmeter Holz aufgeladen. Das sollte reichen für den nächsten Winter. Zurück im Dorf gibt es Kartoffelsuppe und als ich gegen zwei Uhr immer noch mit Begeisterung den monströsen Holzspalter bediene, werde ich vorsichtig erinnert: »Hattest du nicht nur bis Mittag Zeit?«. 

9. Februar 2024