Sprachverwirrung

In den aktuellen Bauernprotesten hört man immer wieder den Satz vom letzten Tropfen. Manche sagen: Da hat sich etwas aufgestaut. Im Verweis darauf, dass es nicht nur um die jüngsten Beschlüsse der Bundesregierung geht, steckt eine jahrelange Erfahrung bürokratischer Gängelung. Vor allem aber sehen sich die Bauern gezwungen, auf die Straße zu gehen, weil sie bereits seit Jahrzehnten einem aktiven gesellschaftlichen Unverstand ausgesetzt sind, der durch irreführende Begriffe und Sprachregelungen zustande kommt. Die meisten Aussagen, die im öffentlichen Diskurs über die moderne Landwirtschaft getroffen werden, sind verzerrend und schüren das Missverstehen.

Da ist zunächst die Rede von den konventionellen Bauern, die man den Biobauern gegenüberstellt. Dieses Begriffspaar unterstellt, die einen folgten in ihrem Tun nur einer Art gesellschaftlicher Gewohnheit, während die anderen im Einklang mit der Natur leben. Damit tut man eigentlich beiden Gruppen Unrecht.

Denn der Begriff der biologischen Landwirtschaft sagt, abgesehen von der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Anbauverband, nur wenig aus, und er ist teilweise irreführend. Landwirtschaft ist immer die Arbeit mit natürlichen Wachstumsprozessen, das haben alle Bauern gemein. Sie ist aber auch immer ein Eingreifen in die Natur, ist Konkurrenzsteuerung und Selektion. Der Boden wird geöffnet, unliebsame Pflanzen werden entfernt, es wird gezüchtet und entschieden, was leben soll und was nicht. Ein Landwirt, der alles wachsen ließe, was wachsen will, könnte nicht leben. Das ist eine unbequeme und nicht immer schöne Wahrheit, aber die ist nun einmal Teil der menschlichen Konstitution, welche die Aneignung und Einverleibung anderen Lebens umfasst. Der Klang der Unschuld, der immer noch im Begriff „Biolandwirtschaft“ mitschwingt, wird in der Gesellschaft gern gehört, aber er täuscht. Besser wäre es, die Kriterien der Anbauverbände genauer zu beschreiben und dadurch das Bemühen der Landwirte um eine ökologisch verträgliche Praxis zu würdigen.

Der Begriff der konventionellen Landwirtschaft macht noch weniger Sinn. Ein Betrieb, der nicht von einem Bioanbauverband zertifiziert ist, folgt darum noch lange nicht bloß einer stillschweigenden Übereinkunft. Im Gegenteil, um als Landwirt zu überleben, darf man gerade nicht in der Konvention verharren. Man sollte, zuallererst auf dem Feld, in seinem Beruf sehr aufgeweckt sein. Landwirtschaft heißt, mit Unvorhergesehenem zurechtzukommen. Man muss seinen Boden kennen, der hier trocken und nährstoffarm, dort feucht und fruchtbar ist, man muss mit wechselnden Wettern, schwankenden Märkten, einer maßlos gewordenen Agrarpolitik und nicht zuletzt mit sich rasant weiterentwickelnden Technologien zurechtkommen. Der Transformationsdruck ist riesig, und das Scheitern steht jedem Landwirt täglich vor Augen. Wer nicht täglich denkt, entscheidet, prüft und abwägt, überlebt nicht. Die Anmutung einer bequemen Konvention ist also ebenfalls eine Täuschung.

Nehmen wir weiter die Rede von den Pestiziden. Auch das Pestizid ist eigentlich ein ideologischer Kampfbegriff. Wer will schon gern die Pest? Tatsache ist: Die Nutzung von Agrarchemikalien ist Teil der heutigen Technologien. Man kann das kritisch bewerten, oft sollte man es auch, aber man sollte sich schon die Mühe machen, zwischen tierischen Schädlingen, konkurrierenden Pflanzen und gefährlichen Pilzen zu unterscheiden. Was wo und in welchem Umfang sinnvoll und zu verantworten ist, das bedarf eines genauen Blicks. Die Landwirte erklären immer wieder, dass sie gern auf bestimmte Mittel verzichten, man möge nur in diesem Fall bitte einheitliche Marktbedingungen schaffen, sodass sie nicht mit Landwirten in Ländern mit weniger Restriktionen beim Einsatz von Agrarchemie konkurrieren müssen. Aber wird es einen geschlossenen deutschen oder europäischer Getreidemarkt geben? Wohl kaum, gerade ein Exportland wie Deutschland hat kein Interesse daran. Im Übrigen wissen wir meist gar nicht, was ein Landwirt gerade auf seinen Feldern ausbringt, wenn wir sehen, dass da etwas gespritzt wird. Viele arbeiten inzwischen mit ganz neuen Mitteln, sie nutzen Milchsäurebakterien oder andere effektive Mikroorganismen, auch in diesem Bereich gibt es umwälzende Entwicklungen.

Kommen wir abschließend zum beliebtesten Begriff, dem der industriellen Landwirtschaft. Industrie ist die standardisierte Verarbeitung von Rohstoffen zu Produkten, Landwirtschaft ist die Herstellung solcher Rohstoffe, vor allem durch die Bearbeitung des Bodens. Der Boden aber ist eine Ressource, die immer individuell wie ein Fingerabdruck ist und tägliche Zuwendung braucht. Die landwirtschaftliche Bindung an den Boden ist eben gerade nicht industriell. Zwar nutzen die Landwirte industrielle Maschinen für Ihre Arbeit, aber das tut heute jeder Mensch. Ausschlaggebend für den industriellen Charakter einer Arbeit ist nicht das Werkzeug, sondern die Herrschaft über den Prozess. Wo der Mensch selbst entscheidet, was wann wo und mit welchen Mitteln zu erfolgen hat, und diese Hoheit nicht an ein technologisches Prinzip abtritt, ist es Handwerk. Und wo er täglich existenziell an ein und dasselbe Gut gebunden ist und es erhalten und verbessern muss, wie es beim Boden der Fall ist, da ist es Landwirtschaft*.

Im Beruf des Landwirts, wie er in Deutschland immer noch von den meisten Betrieben ausgeübt wird, steckt trotz aller Modernisierung noch immer das bäuerliche Prinzip: Während für die „normalen“ Menschen die Produktionsmittel und der Wohnort weitgehend austauschbar sind, kleben die Bauern an der Scholle, sie können ihre Lebensgrundlage nicht austauschen und müssen sich über Stoffkreisläufe und Energiebilanzen Gedanken machen. Der landwirtschaftliche Betrieb bildet ein komplexes System aus Mensch, Boden, Tier und Technik. Diese kleinen Systeme drohen zerstört zu werden, und dahinter liegen allzu oft Kapitalinteressen, die sich an den Eigentumsverschiebungen und der wachsenden Zahl an Filialbetrieben in der ganzen Welt allzu deutlich zeigen.

Die Rede von der industriellen Landwirtschaft, die angesichts moderner Traktoren und Ställe leichtfertig im Munde geführt wird, verschleiert die Gefahr, dass Bauern ihre Betriebe aufgeben und sich stattdessen tatsächlich industrielle Akteure des Landes bemächtigen. Sie macht aus den Opfern der industriellen Bodenagglomeration vermeintliche Täter. Wir erleiden einen unvorstellbaren Verlust, wenn die landwirtschaftlichen Betriebe in Deutschland ihre Existenz einbüßen und das Essen fortan auf dem Weltmarkt gekauft werden muss. Wir würden abhängig von anderen und anfällig für Krisen, bis zum Hunger, was sich hierzulande heute niemand mehr vorstellen kann. Gerade in Anbetracht der schwächelnden Industrie sollte sich niemand allzu sicher sein, dass unser Geld immer ausreichend und wertig genug sein wird, um anderen auf dem Weltmarkt das Essen wegkaufen zu können. Nicht zuletzt sind die ausgeprägten beruflichen Standards in Deutschland ein hohes Gut. Dieses Gut besteht aus Menschen, nicht aus Vorschriften. Hat man es einmal verspielt, bekommt man es nicht zurück.

Dass sich so viele Menschen in den letzten Wochen mit den Bauern solidarisierten, zeugt von einem guten Gespür: An der öffentlichen Rede von der modernen Landwirtschaft ist etwas falsch. Das kann man ändern, und man sollte damit nicht warten.

*Tina Veihelmann und Jan Schiffel weisen mich darauf hin, dass eine Tiermast nach diesen Kriterien durchaus industriell sein kann. Dieser Hinweis ist richtig. Ich meine deshalb, dass es immer eine genaue Betrachtung der jeweiligen Praxis braucht, um den Begriff industriell in Anschlag bringen zu können.

9. Februar 2024