Klubhaus

Wir hatten im Ort ein Kulturhaus, aber alle sagten Klubhaus. Das hatte etwas Exklusives. Es gab Klubs der Intelligenz und Klubs schreibender Arbeiter. Greif zur Feder, Kumpel! Es gab Singeklubs und dazu eben das Klubhaus. Es war einer dieser „Salons der Sozialisten“, wie ein vorzügliches Architekturbuch aus der Nachwendezeit heißt. Es zeigt in Glanzfotos diese aufwändigen Dampfer aus den Fünfzigern, die vor allem in den kleinen Orten mit großer Industrie gestrandet sind: In Unterwellenborn und Rüdersdorf, in Merkers, Espenhain und Böhlen – überall, wo es Dreck und Lärm und Qualm gab. Als Ausgleich für den Gestank bekamen die Arbeiter Kulturbauten mit mondänen Treppenhäusern, riesigen Sälen und mit Bühnen, die Sinfonieorchester fassen konnten. Der Stil dieser sozialistischen Schlösser war im Kontrast zu ihrer Idee unglaublich großbürgerlich, wenn nicht aristokratisch. Man sah Stuck- oder Kassettendecken, Lüster und Ausmalungen, wenn man nach oben sah. An den Fenstern hingen wallende Vorhänge und am Boden quietschte Parkett. Wenn man hinaustrat, fand man sich zwischen Säulenfronten und geschmiedeten Geländern wieder. Vier Meter hohe Türen waren keine Seltenheit.

All das hatte unser Klubhaus auch, in diesem thüringischen Dorf mit dreitausend Einwohnern, das vom Kali in tausend Metern Tiefe lebte. Es gab einen großen und einen kleinen Saal, eine Gaststätte, eine Bibliothek und Räume für die „Zirkel“,  wie man Workshops damals nannte, vom Aquarienzirkel bis zu Zinnfiguren. Sie hatten den muffigen Geruch selten geheizter Räume, an den Wänden hingen Fördertürme und Bergleute mit Grubenlampe.

Das Kulturhaus war ein politischer Ort, natürlich war es das. Es gab „Delegiertenkonferenzen“, die den Charakter chinesischer Parteitage trugen. Die Bühne war mit dann mit Losungen und Fahnen dekoriert. Dazu ein Rednerpult mit Emblem und aufgereihte Topfpflanzen vor der Bühne. Manchmal, wenn ein hoher Parteifunktionär dagewesen war, kam unser Klubhaus ins Fernsehen. Einmal verharrte die Kamera eine gefühlte Ewigkeit auf einer schönen FDJlerin, die wir alle kannten, das war dann am Montag Pausengespräch gewesen. Selber waren wir nie dort, wenn solche Sachen liefen, bis es dann doch soweit war, mit vierzehn: Jugendweihe!

Wir bekamen steife Anzüge, die Mädchen artige Kleider verpasst und mussten auf die einschüchternd große Bühne. Dort bekamen wir Blumen und den „Sinn unseres Lebens“ überreicht, mussten ein Gelöbnis sprechen und gleich wieder runter. Vor diesem Hinunter hatten alle Angst. Die Treppe war viel zu steil und die Aufregung zu groß gewesen. Unten saßen die Verwandten, die Älteren amüsierten sich, weil sie es hinter sich hatten. Die Eltern waren gerührt.

Sinfoniekonzerte sah das Haus selten. Das Eigentliche im Klubhaus waren die Bands, die sich die Klinke in die Hand gaben, fast jedes Wochenende, manchmal sogar Freitag und Samstag. Es gab einen Kulturhausleiter, der zwar eine rote Schulung absolviert, aber keinen Schaden genommen hatte. Er hatte ein Händchen. Irgendwie hat er sie alle ranbekommen. Silly und Karussell, City und Holger Biege und Stefan Diestelmann und wie sie alle hießen. Veronika Fischer gab hier ihr letztes Konzert, bevor sie in den Westen ging. Alle haben dort gespielt, in diesem kleinen Nest im letzten Zipfel von Thüringen. Nur eine Band ist nie dagewesen, wahrscheinlich war sie zu teuer und schon zu abgehoben: Die Puhdys. Irgendwie hätten die auch nicht richtig hingepasst.

In den Achtzigern nahm ohnehin die profane Nutzung des Klubhauses zu und die politische ab. Es gründete sich ein Karnevalsklub – immerhin wieder ein Klub – und brachte aufsehenerregende Programme auf die Bühne. In hunderten freiwilligen Stunden bauten die Karnevalisten nicht nur die Requisiten, sondern auch im Keller eine Bar. Man würde sie heute, existierte sie noch, umgehend unter Denkmalschutz stellen. Alles war selbstgemacht, und das meiste war geschweißt. In dieser stählernen Kulisse wurde der Abend fortgesetzt, der oben angefangen hatte, und nicht selten saßen die Bands dann auf den drehbaren Barhockern, die auf dem Boden angeschraubt waren. Der Alkohol floss in Strömen. Überhaupt war der Konsum von Bier, Schnaps, süßem Wein und Zigaretten immer übermäßig gewesen. Nach solchen Abenden musste man seine Sachen im Flur ausziehen, so kontaminiert von Nikotin sind sie gewesen.

Dann kam die Wende und das Klubhaus wurde, wenn man so will, Schauplatz der Friedlichen Revolution auf Provinzebene. Egon Krenz hatte auf seinen letzten Metern einen „Dialog“ ausgerufen, die Partei suchte jetzt das Gespräch. Auf der Bühne saßen mit hängenden Schultern der Kombinatsdirektor und der Parteisekretär, ein ZK-Mitglied, und mussten sich die Vorwürfe des Volks gefallen lassen. Es gab unvergessliche Szenen.

Im heißen Winter 1990, als es das erste Mal einen Wahlkampf gab, füllte Gregor Gysi den Großen Saal und sagte, dass er sich zur Rettung des SED-Vermögen etwas ausgedacht hätte. Der Kulturhausleiter blieb und auch die Konzerte liefen weiter. Es kamen jetzt neue Namen ins Haus. Keimzeit spielte Überlänge und zeltete auf den Werrawiesen. Dirk Zöllner brachte mehr Musiker auf die Bühne, als Menschen im Saal waren.

Um das Jahr 2000 war dann plötzlich Schluss. Die Leute hatten jetzt Rechtsschutzversicherungen und ein Nachbar klagte; es war ihm zu laut gewesen. Es durften nur noch eine Handvoll Veranstaltungen pro Jahr sein. Das Klubhaus verwaiste, manchmal fand noch eine Verkaufsmesse statt. Einmal kaufte ich mir billige Schuhe. Es war die Zeit der Glücksritter und Lamadecken. Oma Lene kaufte fünf Lederjacken an der Haustür. Der Karneval war nun der einzige Höhepunkt in einem ausgedünnten Klubhausjahr geworden.

Und schließlich, es war 2016, fiel die Entscheidung zum Abriss. Die kleine Gemeinde konnte sich das große Haus nicht mehr leisten, hieß es. Im entscheidenden Moment habe ich ein Foto gemacht. Die große Bühne steht noch und öffnet sich ins Freie. Im Vordergrund von Schuttbergen steigt eine Rakete aus Blech in den Himmel auf, die an Juri Gagarin erinnert. Auch er war im Klubhaus gewesen, auf seiner PR-Tour nach dem Weltraumflug.

Als alles abgeräumt war, baute ein Discounter auf der Fläche, und ein NORMA zog ein. Konnte es eine treffendere Symbolik für den Wandel geben, dachte ich, anstelle des Kulturpalastes ein Verkaufstempel, zumal ein ganz billiger. Und ich kaufte, wenngleich notgedrungen, ab und zu darin ein.

25. April 2025