Über das Schlachten und das Leben lassen

Es hatte ihn wie immer Überwindung gekostet, zur Vernissage zu gehen, zumal an einem Freitag. Im Laufschritt hatte er vor der Zeit die Tiere versorgt, im Garten nach dem Rechten gesehen, sich umgezogen und rasiert, um rechtzeitig in der Stadt zu sein. Er kannte einen der Künstler, es war der Sohn von Freunden. Junge Menschen, die sich der Kunst hingaben, musste man unterstützen, dachte er, und sei es durch Aufmerksamkeit, wenn schon nicht durch den Kauf ihrer Werke.

Es war wie stets auf den Ausstellungseröffnungen, die er besucht hatte: Kaum jemand nahm Notiz von der Kunst. Es ging um das Sehen und Gesehen werden, ums Palavern oder schlicht darum, einen schönen Abend zu haben. Die Ausstellung war nur der Hintergrund. Er jedoch war die weißen Wände abgelaufen, war hier und da stehen geblieben und schließlich fasziniert vor einem der gezeigten Bilder verharrt. Er freute sich ohnehin, wenn sich junge Künstler noch an gegenständliche Malerei heranwagten, an Menschen oder Tiere, und hier hatte er ein Bild gefunden, das aus seinem Leben sprach. Zu sehen waren ein Schaf und ein Wolf in einer schneebedeckten Landschaft, doch ihre klassische Rollenverteilung war vertauscht. Der Wolf war gerissen; das Schaf schaute auf sein blutiges Opfer herab.

Es gab eine kleine Rede, lässige Musik vom Cello und „leckere Canapes“, wie seine Nachbarin am Buffet die Häppchen kommentierte. Seine Irritation konnte er überspielen; er hatte das Wort bislang mit einem Möbelstück assoziiert. So kamen sie ins Gespräch, und er konstatierte besänftigt, dass die Fahrt in die Stadt keine schlechte Entscheidung gewesen war.

Unvermeidlich waren sie nach wenigen Sätzen des Kennenlernens bei seinem Leben auf dem Land. Die Frau war offenbar erstaunt, dass er sich hierher verirrt hatte; er gehörte für sie nicht hierher. Es fielen Worte wie Garten, Stall und Scheune und so weiter, dann fragte sie: „Ach, dann seid ihr Selbstversorger?“ Er kannte diese Schlussfolgerung, sie lag scheinbar nahe, obwohl sie sich deutlich von der Realität unterschied. Er fragte sich ohnehin, wenn er von echten Selbstversorgern hörte, wie sie das schafften, vor allem in den langen Monaten ohne frischen Ertrag, also von November bis April.

Er musste also einschränken: Bei Obst und Gemüse oder gar Getreide sei das schwer, aber beim Fleischkonsum würde es schon weitgehend gelingen. „Wie“, entfuhr es ihr brüsk und mit aufgerissenen Augen, „ihr haltet Tiere und schlachtet sie auch“? Ja natürlich, erwiderte er, womit das Gespräch von allein dort angekommen war, wohin er es aus Provokation mitunter lenkte: Bei der bloßen Tatsache sowie, bei Interessierten, auch bei Einzelheiten des Schlachtens.

Das vermeintlich Unappetitliche, das Blutige oder Technische des Schlachtens erreichte er in solchen Gesprächen nur, wenn gezielte Nachfragen es erzwangen; nie von selbst. Auch heute hatte er kein Interesse, das Thema zu vertiefen. Er fand sein Gegenüber interessant, und er wollte auch, wie alle anderen, einen schönen Abend haben.

Wirkliches Interesse für das Thema kam stets von medizinischem Personal, von Ärzten oder Pflegern oder solchen, die es werden wollten. Diese machten sich keine Illusionen, dass sich zwischen dem Zustand des Fleisches auf ihrem Teller und dem lebenden Tier ein Vorgang vollziehen müsse, der diesen Zustand herstellt, und sie hätten keine Scheu davor, über diesen Vorgang zu reden. Sie stellten Fragen wie gezielte Schnitte: Wie betäubst du, auf welche Weise tötest du, welche Werkzeuge braucht man? Was liegt zwischen Tötung und Verarbeitung, welche Zeit und welcher Vorgang, wie wird gekühlt und abgehangen, was wird mit den Resten? Es war, dachte er, wie mit dem Tod generell: Es gibt eine Mehrheit, die das Thema tabuisierte, und eine kleine Minderheit, die den Tatsachen ins Auge sieht.

Einmal waren Freunde seines Sohnes genau in jenem Moment auf den Hof gekommen, als der große Kessel zum Rupfen der Flugenten bereits angeheizt war. Er benutzte dazu einen jener unverwüstlichen, aus der Nachkriegszeit stammenden Waschkessel, die eine beeindruckende Effizienz besaßen: Wenige Stücke Holz im Feuerraum erhitzten dreißig Liter Wasser in dem Bottich, der darüber installiert war. Die Flammen strichen über die gusseiserne Wand und erwärmten sie. Er stellte diesen Ofen, den er ihrem Haus vorgefunden hatte, mitten auf den Hof, steckte ein Ofenrohr daran und schon konnte es losgehen. Das Wasser musste um die 70 Grad haben, damit sich die Entenfedern sauber lösen ließen.

Die Mehrheit der nun ankommenden Jugendlichen hatte angewidert oder scheu das Weite gesucht. Nur einer, der Medizin studieren wollte, hatte sich genähert und gefragt, ob er auch einmal das Rupfen probieren dürfe. Mit Forscherdrang hatte er den allmählich von Federn befreiten Entenkörper untersucht. Im weiteren Verlauf stellte er erstaunt fest, dass das Schlachten in diesem Stadium keine blutige, sondern eine saubere, bisweilen fettige Angelegenheit war. Der junge Mann war heute bereits Arzt im Praktikum. Er würde ihn gern noch einmal auf das Erlebnis ansprechen, hatte ihn aber nicht wieder getroffen.

Er habe, sagte er zu der Frau im Sommerkleid, für alle Menschen eine große Toleranz, die dem Fleischkonsum abgeschworen haben. Er würde ja selber auch kein Fleisch mehr aus industrieller Haltung kaufen! Er erwarte diese Toleranz jedoch auch von der vegetarischen und veganen Fraktion. Denn in seinen Augen ging er einen klugen, selbstbestimmten und auch ökologisch sinnvollen Weg. Für ihn war mit der Entscheidung, auf dem Land zu leben, die Grundstücksfläche effektiv zu nutzen und Tiere zu halten, auch das Schlachten eine Notwendigkeit geworden: Eher eine logische Konsequenz als eine Tätigkeit, die er sich wünschte.

Zunächst, am Beginn ihrer Dorfkarriere, hatten sie erwogen, das unliebsame Schlachtamt abzugeben an einen Nachbarn. Doch das war ihnen feige erschienen, und so machte er es beim Federvieh selbst. Er gab zu, dass er schlecht schlief im Vorhinein und danach völlig erschlagen war. Es kostete Überwindung, Kraft und Konzentration, barg aber auch stets das Ritual der Vorsorge in sich, zumal sich die Schlachtung in der Regel im Herbst vollzog, nach einem Sommer des Fütterns und Kümmerns. Danach wurde es ruhiger, die Kühltruhe war gefüllt und der Winter konnte kommen; die Ernte war eingefahren.

Freilich, sprach er zu ihrem skeptischen Blick, sie hätten sich zum Gnadenhof erklären können, wie andere das machten. Sie könnten Schafe bis zu ihrem natürlichen Tod das Gras abfressen lassen und Hühner nur der Eier wegen halten. Nach deren Tod müssten sie sich dann eben wieder neue Tiere kaufen. Mit einigen Hühnern machten sie es so: Sie legten ein paar Jahre, bis sie nachließen und schließlich den erstaunlichen Eierstrom versagten, ein paar Jahre noch als „nutzlose Fresser“ mitliefen und schließlich starben. Irgendeine Krankheit raffte sie dahin, „Altersschwäche“ schied als Diagnose aus, immer gab es irgendeinen Grund. Es war dann wie beim Menschen, und wie unterschiedlich waren doch die Tode! Mitunter dauerte es Wochen, bis ein totgeweihtes Huhn verendete, ohne dass man ihm noch helfen konnte.

Sie aber wollten auf die uralte Prägung des Allesessers Mensch, und diese Redewendung bereitete ihm ein sichtbares Vergnügen, nicht verzichten: Um den Bedarf an Eiweißen und Fetten zu bedienen, aus Abneigung gegen das aus Tropenländern importierte Soja, aus Genuss sowie, und das stehe im Vordergrund, aus der Freude am kleinen, in ihrem Grundstück geschlossenen Kreislauf. Die grandiose Fähigkeit der Wiederkäuer nutzen! Aus einfachem Grasland, was ein Wunder, hochwertiges Fleisch werden lassen! Dies sei schon Jahrtausende so, referierte er, Schafe seien Erzeuger dieser Landschaft, die Schlachtung und die Zubereitung von Fleisch ein uraltes Handwerk. Wollten sie das alles aufgeben? Sollte denn der Trend wirklich dahin gehen, dass alle kein Fleisch mehr äßen?

Dieser Kreislauf vollziehe sich, nun war er in Fahrt gekommen, ganz natürlich während eines Jahres. Im Spätsommer einen Bock besorgen und auf die Befruchtung der Mutterschafe hoffen. Im Winter, wenn es nur Heu und anfallende Kartoffelschalen gibt, die Bäuche sich runden sehen, und wie die Euter sich füllten. Mit der Weidenblüte kämen dann die Lämmer, wenn alles gutgehe, unmissverständliches Signal des Frühlings, das sie nicht mehr missen mochten. Was wäre der Hof ohne diesen Kreislauf, ohne diese Energie? Nicht umsonst, und dies sage er als Atheist, messe das Christentum dem Schaf so große Rollen zu, in der weihnachtlichen Krippe wie zu Ostern wie auch zwischendurch.

Sie nickte nur bei diesen Worten, überhaupt sagte sie wenig. Der Inhalt des Gesprächs schien sie zu überfordern. Also fuhr er fort: Der Sommer sei die Zeit des Fressens. Wobei es faszinierend sei, wie gut das Weidetier mit fetten wie mit kargen Jahren umzugehen wusste. Dürrezeiten, und diese habe es in den letzten Jahren häufiger gegeben, würden schlicht zur besseren Verwertung des Futters führen. Es wüchsen stets kräftige und gesunde Schafe heran, bis es wieder Zeit sei, einen Bock zu holen. Dann käme die Schlachtung, und käme sie nicht, was sollte denn dann werden? Dann gäbe es keinen Grund, die nächste Generation ins Leben zu lassen. Denn für immer mehr Tiere, sagte er, gebe das Grundstück keinen Raum, nicht genügend Futter, keine Zukunft. Würde man nicht schlachten, könne man nicht „zulassen“, wie die Umschreibung für den geplanten Geschlechtsakt hieß. So einfach sei das! Dann gäbe es keine Vorfreude, nicht den schönen Moment der Geburt, den die Schafe alleine meistern, und nicht den Spaß an den Lämmern, die sich tatsächlich wie Kinder benahmen, ungeschickt und frech. Nein, das alles gäbe es nicht, und bei diesen Worten sah sie einen Tränenanflug in seinem Augenwinkel blitzen, der sie rührte. Die Muttertiere ließen sie selbstverständlich „stehen“, bis sie ins hohe Alter kamen. Noch so ein Begriff, den sie unwidersprochen übernommen hätten, da er alles sagte.

Im größeren Maßstab, über den Zaun des Grundstücks hinweg gedacht, stellte er sich des Öfteren die Frage, wie eine Landschaft ohne Haustiere aussehen wird. Wenn der Trend sich fortsetzt, immer weniger Tiere zu halten, würden die Wiesen und Weiden verschwinden. Mit ihnen Schmetterlinge und Insekten, und Vögel, denn Ackerland sei weit weniger Lebensraum als Gras. Waldwiesen und Triften würden zu Gebüschen und schließlich zu Wald, offene Landschaftsräume würden weniger. Wollte man das wirklich?

Ob er die Schafe ebenfalls selber schlachte, fragte sie in einer Art, die ein Nein erhoffte. Er erfüllte ihr den Wunsch. Für die Schafe holten sie sich professionelle Hilfe. Er sei Jahr für Jahr beeindruckt, wie beim Fleischer jeder Handgriff sitze, und achte dessen Dienstleistung sehr. In jedem Herbst sei selbst das ein Vorgang, der ihnen im Vorhinein Anspannung, im Nachgang einen unglaublichen Energieverlust bedeute. Und dabei müsse er nur die Schafe an die Schlachtbank führen und halten, wenn sie betäubt und kurz darauf getötet würden.

Interessant sei ja auch, dass nichts an den Tieren unverwertet bliebe. Auch der Pansen werde ausgewaschen und als Delikatesse an die Hunde gegeben. Das Fell indessen müsse man vergraben, es gebe ebenso wie für geschorene Wolle Jahr für Jahr keine Abnehmer mehr. Für das Vlies wenigstens hätten sie jetzt einen Zweck gefunden, der sich mit der Idee des Kreislaufes vereinen lasse: Sie verwenden sie als Mulch und Dünger für den Garten.

Ihr Interesse schwand, sie sah sich suchend nach einem Anlass für ein Ende des Gespräches um. Sein Vortrag über das Schlachten endete im Sand, das Thema eignete sich nicht zum Kennenlernen. Es blieb ein leichtes Entsetzen zurück, ein bisschen Grusel; sie verabschiedete sich mit Irritation im Blick und nahm sich ein letztes Häppchen vom Buffet. Er warf seinerseits einen letzten, langen Blick auf den vom Schaf gerissenen Wolf und fuhr nach Hause.

18. Juli 2023