Ende einer Agrarschlacht?
Wer in den neunziger Jahren in brandenburgische Dörfer kam, stieß allenthalben auf verlassene Stallanlagen. Die langen, barackenartigen Gebäude waren mit Wellasbest gedeckt, die Wände roh gemauert und meist unverputzt, die Flächen betoniert, hier und da von Silagegruben unterbrochen. Hin und wieder lugten Reste der Vorkriegszeit hervor; alte Ziegelscheunen oder Ställe, meist lieblos umgebaut, ohne Sinn für ihren baukulturellen Wert. Diese Ensembles machten einen verlassenen und unbelebten Eindruck – kaum vorstellbar, dass hier einmal viele Tiere mit ihrem Muhen, Grunzen, Schnattern und Gackern sowie mit viel Mist und Gülle die Luft gefüllt hatten. Noch unwirklicher war die Vorstellung, dass in diesen Anlagen vor gar nicht langer Zeit noch Menschen gearbeitet hatten.
Betrat man damals ein solches Gelände, ohne persönliche Erinnerungen mitzubringen, wird man wohl wenig Bedauern für das Vergehen eines gesellschaftlichen Systems empfunden haben, das diese Anlagen hervorgebracht hatte. Ihre ästhetische Qualität war schlecht, die räumliche Anordnung zur Dorfstruktur wirkte oftmals willkürlich und grob. Nach bäuerlicher Landwirtschaft sah das jedenfalls nicht aus, auch nicht nach Stolz und Selbstbewusstsein, und schon gar nicht nach Tierwohl oder Umweltsensibilität. Die Flächen wirkten wie die Überreste einer wütenden Agrarschlacht. Die war nun vorbei, und das war vielleicht auch besser, so hat damals vielleicht mancher gedacht.
Aber der unwirkliche Frieden, der von den leeren Ställen und der in ihnen herrschenden Stille ausging, trog. Denn man konnte darin weder erkennen, was an diesen Orten wirklich vorgefallen war, noch konnte man den anhaltenden und gewaltigen Transformationsdruck spüren, in den die landwirtschaftlichen Betriebe längst geraten waren, und der bis heute kaum nachgelassen hat. Der bloße Anschein der brandenburgischen Dörfer täuschte über die Komplexität des Lebens, wie es hier gelebt wurde, vollkommen hinweg und trug maßgeblich zu einem anhaltenden Missverstehen des ländlichen Raums in den neuen Bundesländern bei. Dieses Missverstehen fand im Demografiediskurs seinen vorläufigen Höhepunkt, um bald darauf in der Debatte über den hohen Anteil an AFD-Wählern auf dem ostdeutschen Land eine weitere Steigerung zu erleben.
Welche Schicksale stecken hinter den stummen baulichen Zeugen der DDR-Landwirtschaftsgeschichte? Welche Auseinandersetzungen waren zu führen, welcher Preis ist für den Agrarfortschritt gezahlt worden? Welche menschlichen Kosten, aber auch Gewinne schlagen zu Buche? Über diese Fragen ist viel geforscht und diskutiert worden, ein öffentliches Bewusstsein gibt es dennoch kaum von ihnen. Der Zusammenhang zwischen dem ländlichen Raum und der Landwirtschaft in den Ländern der ehemaligen DDR ist ein blinder Fleck, die medialen Bilder und Erzählungen sind von dieser Wirklichkeit ebenso entfremdet wie einst die Besucher der aufgelassenen Stallanlagen nach dem Ende der DDR: Von den Kämpfen, die hier ausgetragen wurden und werden, hat man kaum eine Ahnung. Man könnte sagen: Ideologisch schwer eingefärbte Filmwerke aus der DDR-Zeit wie „Daniel Druskat“ oder „Wege übers Land“ sind immer noch näher an dieser ländlichen Wirklichkeit als das ausgeprägte Schweigen unseres heutigen Diskurses. Ich will deshalb im Folgenden versuchen, diesen Fragen entlang von ca. 50 Befragungen mit Landwirten im Oderbruch und in der Region Uckermark-Barnim zu verfolgen, an denen ich seit über 15 Jahren beteiligt war [2].
Freie Bauern unter Druck
Menschen mit sehr verschiedenen Voraussetzungen wurden nach 1945 mit den agrarpolitischen Turbulenzen des neuen politischen Systems konfrontiert: neben den ansässigen freien Bauern waren dies vormalige Landarbeiter der märkischen Güter, Vertriebene aus ehemaligen deutschen Gebieten [3] und auch Familien ohne landwirtschaftliche Erfahrung, die es infolge des Krieges aufs Land verschlagen hatte. Die Lage war schwierig, immerhin herrschte Hunger. Mit dem erzwungenen Ende der großen Landwirtschaftsgüter wurden Arbeitskräfte sowie landwirtschaftliche Strukturen freigesetzt, für die es keine betriebliche Führung gab [4]. Das führte zu gravierenden Problemen beim Aufbau geordneter Produktions- und Lieferstrukturen und, bereits am Anfang der fünfziger Jahre, zur Gründung der ersten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die sich allerdings oft nicht gut entwickelten, da fachliches Können, standörtliche Erfahrung und lokale Bindung fehlten. Die Neusiedler, die durch die Bodenreform in den Besitz kleiner Landwirtschaftsflächen kamen, hatten mit durchschnittlich fünf Hektar Ackerland eine sehr geringe Naturalbasis, und auch hier schlug teilweise eine unzureichende landwirtschaftliche Erfahrung zu Buche.
Die freien Bauern spielten deshalb eine besondere Rolle. Mit ihrer erheblich größeren Kompetenz und ihren (trotz zahlreicher Kriegsverluste) guten, an die lokalen Bedingungen angepassten materiellen Strukturen standen sie von vornherein unter einem doppelten gesellschaftlichen Druck: Zum einen litten sie unter den hohen Abgabenlasten und unter politischen Eingriffen in ihre bäuerlichen Entscheidungen. Selbst die anzubauenden Feldfrüchte wurden ohne Rücksicht auf die Eignung der ihrer Böden, ihrer Schlagstrukturen oder ihrer jeweiligen Stoffkreisläufe vorgegeben. Wer die bäuerliche Praxis kennt, weiß, dass eine solche Beschneidung der eigenen Entscheidungsfreiheit für die Betroffenen unerträglich ist. Zugleich gab es aber ein politisches Bewusstsein der unverzichtbaren landwirtschaftlichen Fähigkeiten dieser Menschen, weshalb sie als ländliche Bevölkerungsgruppe unter besonderer politischer und agitatorischer Aufmerksamkeit stand. Denn es lag auf der Hand, dass der Aufbau einer funktionierenden Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln ohne sie nicht gelingen würde.
LPG Typ als Atempause für die Bauern und den Staat
Insofern muss die Gründung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vom Typ I als historischer Kompromiss interpretiert werden, mit dem die Bauern und die politische Führung eine sowohl für die betroffenen Bauern als auch für die staatlich Verantwortlichen unerträgliche Situation vorübergehend mildern konnten: Während der Feldbau kollektiviert wurde, was im Zuge der zunehmend notwendigen Anschaffung moderner Feldbautechnik durchaus rational war, konnte das Vieh, immerhin der Inbegriff bäuerlicher Subsistenz, noch selbstbestimmt auf den eigenen Höfen gehalten werden [5]. Damit wurde auch der individuelle bäuerliche Erfolg belohnt. Dass es bei dieser Form der ländlichen „Gewaltenteilung“ nicht blieb, ist bekannt. Die LPGen vom Typ I mögen aber erklären, warum nicht noch mehr Bauern in den fünfziger Jahren die DDR verlassen haben: Sie hatten eine Bindung an ihren Hof, die stärker war als jene an die jeweiligen Ackerflächen, und diese Bindung wurde vorerst nicht angetastet. Diese vorübergehende Pause in der staatlichen Kontrolloffensive gegenüber der Landwirtschaft ist ein möglicher Grund dafür, dass zehn Jahre später, als der Kollektivierungsdruck erneut erhöht und letztlich die gesamte landwirtschaftliche Produktion kollektiviert wurde, überhaupt noch junge Leute mit bäuerlichem Verstand auf dem Land zu finden waren, die sich nun in landwirtschaftlichen Ausbildungsberufen qualifizieren bzw. ein Landwirtschaftsstudium aufnehmen konnten, um anschließend in den neuen Strukturen eine wichtige Rolle zu spielen.
Ein neues Berufsbild
Ein großer Teil dieser Menschen, die später Betriebs-, Feldbau- oder Tierproduktionsleiter wurden, geht auf die Familien mit bäuerlicher Tradition zurück, wenn diese Tradition auch immer schwerer gelebt werden konnte. Aufgrund der ihnen noch zur Verfügung stehenden subsistenzwirtschaftlichen Erfahrung ihrer Elternhäuser waren sie in der Lage, sehr komplexen Herausforderungen gerecht zu werden. Denn die tägliche Praxis eines Bauernhofs fordert nicht nur immerwährende Betriebsamkeit, sondern auch Verantwortungsgefühl, Urteilsvermögen, Entscheidungsfreudigkeit sowie handwerkliches und technisches Können [6]. Diese Menschen bewältigten fortan sowohl die vielseitigen physischen Prozesse der landwirtschaftlichen Produktion in den Betrieben (großflächiger Feldbau unter – wie immer – wechselnden Wetterbedingungen, ständige Integration der Technologieentwicklung, Tierhaltung in immer größeren Produktionseinheiten) als auch die Leitung großer Arbeitskollektive und nicht zuletzt die ständige Anpassung an staatlichen Planvorgaben und den Umgang mit einer unaufhörlichen politischen Gängelung. Es gibt kaum eine etablierte Vorstellung davon, welches neuartige Berufsbild hier eigentlich entstand, da weder das ältere Modell des Einzelbauern noch die heutige Figur des modernen Betriebsleiters in dieser Rolle aufgeht.
Natürlich zeichnet diese Charakteristik ein sehr einfaches Bild, das man als Verklärung abtun könnte. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist deshalb die Frage nach der spezifischen Qualität dieser betrieblichen Rolle. Über die „gute Praxis“ Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften und über das, was man in diesem Fall unter „gut“ versteht, gibt es m.W. nur persönliche Einschätzungen, kaum wissenschaftliche Expertise. Um sich eine Vorstellung von dieser Qualität zu machen, kann man sich nun gerade das Scheitern bzw. die gravierenden Probleme einzelner Betreibe vor Augen halten, die in der Regel dann auftraten, wenn die Leitung eben schlecht war [7]. Alkoholismus, Tierleid, (feld-)bauliche Verwahrlosung: auch das ist Teil der DDR-Landwirtschaftsgeschichte. Aber es gibt eben in jeder Zeit gute und schlechte Bauern. Für das Verständnis der Menschen und ihrer Erfahrungen ist es wichtig, sich klarzumachen, dass jene, die den damaligen Herausforderungen besser gerecht wurden, einem völlig neuen Berufsbild gerecht wurden und unter hohem gesellschaftlichem Druck standen. Mit anderen Worten: die Rede ist hier von jenen Akteuren, bei denen das neue Rollenmodell eines leitenden Landwirtes auch aufging.
Im Sinne dieses Rollenmodells wurden diese jungen Bauern auch ausgebildet: Die brandenburgischen Betriebsleiter haben oft an der Humboldt-Universität zu Berlin Landwirtschaft studiert, hatten also städtische und akademische Erfahrung. Sie wurden als Verantwortungsträger dieser Gesellschaft behandelt und „erzogen“ und brachten dennoch ein eigensinniges bäuerliches Urteilsvermögen in ihre neue Rolle ein [8]. Für das weitere Verständnis insbesondere der Nachwendegeschichte sind dies entscheidende Umstände.
Die Rolle der Betriebe in den Dörfern
Wie lässt sich die Rolle der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften in den Dörfern beschreiben? Sie bildeten extrem wichtige Organisationsformen für den ländlichen Raum. Da in der DDR weder die Technologieentwicklung noch die gesellschaftliche Leitidee von Modernisierung auf den Abbau von Arbeitskräften in der Landwirtschaft zielte, hatten die meisten Dorfbewohner in der örtlichen LPG ihre Arbeitsstelle. Es gab kleine und große Genossenschaften, später, im Zuge der Trennung von Tier- und Pflanzenproduktion, auch größere regionale Verbünde (KAP – Kooperative Abteilungen Pflanzenproduktion). Die große räumliche Schnittmenge zwischen Wohnen und Arbeiten blieb aber für Frauen und Männer und ebenso für die Heranwachsenden eine Selbstverständlichkeit. Man ging einfach davon aus, dass die unersetzliche Landarbeit eine Zukunft hat, sodass auch neue entsprechende Strukturen (Essensversorgung, Kindergärten, Schulen, Geschäfte, Kulturhäuser) um diese Komplexe aus Wohnen und Arbeit herum entstanden. Das Dorf erfuhr unter DDR-Bedingungen zwar eine Modernisierung, blieb aber als sozioökonomischer Komplex erhalten, d.h. es war nicht nur Wohngebiet, sondern der Ort, an den sich primär alle Ansprüche des Menschen – von der Daseinsvorsorge bist zur Kultur – richteten. Damit lag auch die konkrete Gestaltung dieses Lebens zu großen Teilen in den Händen der dort lebenden Menschen [9]. Das klingt seltsam, wenn man sich Planvorgaben, Staatsbürgerkundeunterricht, Pioniernachmittage, Kampfgruppenübungen und Erste-Mai-Demonstrationen vor Augen führt. Es ist damit auch nicht gesagt, dass die Menschen die Formen ihrer Lebensgestaltung frei wählen konnten. Es soll allerdings heißen, dass sie innerhalb vorgegebener Formen erhebliche Gestaltungsspielräume hatten, und vor allem, dass sie die Dinge selbst tun mussten, während die Menschen in unserer heutigen postindustriellen Versorgungsgesellschaft in erster Linie als Verbraucher angesprochen werden.
Die LPGen spielten bei dieser dörflichen Lebensgestaltung eine Schlüsselrolle, nicht zuletzt als Bauträger, denn sie hatten oftmals eigene Brigaden, die mit der Errichtung von Sozialgebäuden und der Schaffung moderner Infrastruktur (Straßen, Brücken, Bushaltestellen) beauftragt waren. Der erwähnte politische Druck des Staates musste mit den lokalen Interessen permanent in Einklang gebracht, Spielräume für eigene Entscheidungen mussten gesucht und genutzt werden. Die betrieblichen Organisationsformen waren hierarchisch und blieben meist männlich dominiert, dennoch gab es egalitäre Facetten, die die Menschen zu nutzen wussten. Erfolgreiche LPG-Vorsitzende mussten klug, um nicht zu sagen: schlau sein. Außerdem waren sie unaufhörlich mit nahezu allen Teilen und Mitgliedern der ländlichen Bevölkerung in Interaktion: Mit dem Parteisekretär und den Bürgermeistern wie auch mit den Kindern der Schulklassen, die hier zum Unterrichtstag der Produktion oder als Patenklassen anrückten, mit den Handwerksbetrieben ebenso wie mit den Studentengruppen, die zum Ernteeinsatz aus Land geschickt wurden.
Unter diesen Rahmenbedingungen entstand in den LPGen ein leistungsfähiger Persönlichkeitstyp mit hohem Selbstbewusstsein. Fälle extremer Eigensinnigkeit, unternehmerischer Kühnheit und halsbrecherischen Agierens auf allen Ebenen der Politik mögen anekdotischen Charakter haben, sind aber in jeder DDR-Region überliefert. Die Erfahrung des vergleichsweise großen Gestaltungsspielraums konnte in Selbstherrlichkeit münden, es finden sich aber ebenso ausgesprochen bescheidene und zurückhaltende Verhaltensmuster, die letztlich im bäuerlichen Verantwortungsgefühl wurzeln: Man bewirtschaftete nun nicht mehr nur den privaten Hof, sondern ein halbes Dorf, dies aber mit der gelernten Beobachtungsgabe und einem geschulten Urteilsvermögen.
Interessant ist auch ein Blick in die Büros der Betriebsleiter. In der Regel waren dies niedrige Barackenräume, ausgestattet mit Schrankwänden aus der DDR-Möbelproduktion. Das Kaffeepulver wurde in der Tasse aufgebrüht, zum Essen ging man mit den anderen gemeinsam, dort aßen auch der Landarzt oder die Bürgermeisterin. Auch die ästhetische Anspruchslosigkeit dieser Betriebe hatte etwas Egalitäres. Dennoch – oder gerade deshalb – wurden im Oderbruch die in den achtziger Jahren siedelnden Künstler in der Regel willkommen geheißen und unterstützt. Man sah sie nicht als Bedrohung, denn diese Neuankömmlinge hatten gegenüber der Landarbeit wiederum kein elitäres Bewusstsein, wie es heute bei Neusiedlern aus der Stadt oft anzutreffen ist [10].
Der große Bruch
Was geschah mit diesen Betrieben nach dem Ende der DDR? Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der DDR wurden entweder in Agrargenossenschaften nach bundesdeutschem Recht oder in andere Gesellschaftsformen umgewandelt. Manche Landwirte wagten den Neuanfang auf eigene Faust als Wiedereinrichter, andere schlossen sich zusammen, hier und da bekamen neue Landwirte aus dem Westen oder aus Holland einen Fuß in die Tür. Die Sicherung der dafür benötigten Ackerflächen durch Pacht oder Kauf war ein aufreibendes und zugleich verschwiegenes Geschäft, in dem einstige Kollegen bzw. Genossen zu erbitterten Gegnern werden konnten. Mitarbeiter mussten entlassen, entschädigt, abgefunden werden. Wo bis dahin einhundert Menschen gearbeitet hatten, blieben auf einmal noch zehn, bald nur noch acht, dann sieben, dann fünf. Und noch heute sind diese Strukturen nicht zur Ruhe gekommen, denn jährlich werden Betriebe aufgegeben, umgewandelt, verkauft. Wer auf die Landwirtschaft schaut, als sei sie ein in sich ruhendes Einerlei, will den seit Jahrzehnten anhaltenden Transformationsdruck nicht sehen.
Auch die Produktion selbst und ihre Technologien unterlagen schwindelerregenden Umwälzungen. Heute wird oft über Massentierhaltung geklagt, gemessen an den Tierbesatzdichten der DDR sind die heutigen Agrarlandschaften Brandenburgs beinahe leergefegt. Viele Feldfrüchte fallen durch den Rost der Rentabilität, und es wird immer schwieriger, die Fruchtfolgen zu gewährleisten, die ein guter Boden verlangt. Die Vielfalt der regionalen Ackerfrüchte war zu DDR-Zeiten höher als heute. Die Betriebe stehen unter einem gewaltigen Rationalisierungsdruck, viele geraten in die klassische Kapitalfalle: Man braucht neue Maschinen und Anlagen, um Schritt zu halten, nachher aber sinken die Milch- oder Fleischpreise, sodass die Kredite kaum noch oder gar nicht mehr getilgt werden können.
Als sei dies nicht genug, geraten die Landwirte nun auch noch unter den Druck des Agrardiskurses. Wer nicht „bio“ ist, gilt als rückwärtsgewandt. Hier schließt sich der Kreis zur Wahrnehmung der Hinterlassenschaften der DDR-Landwirtschaft. Was sich den Augen, Ohren und Nasen der Großstädter dort in den märkischen Dörfern bietet und ihren Lebensstil-Vorlieben möglicherweise nicht entspricht, kann nicht auf Verständnis hoffen.
Die Landwirtschaft der Gegenwart steht drei instabilen Systemen gegenüber. Erstens dem Wetter- und Klimasystem, das immer neue Überraschungen bringt, was allerdings zum bäuerlichen Handwerk gehört. Zweitens dem Markt, der extreme Preisturbulenzen verursacht und ständige Rentabilitätsrisiken in sich birgt. Und nun – drittens – eben auch der Politik, die das landwirtschaftliche Handeln unaufhörlich durch neue Förderungen und Restriktionen zu steuern versucht. Man kann sich also vorstellen, dass die Leiter und leitenden Angestellten der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften nach der Wende alle Hände voll zu tun hatten.
Landschaftliche Vernunft zwischen 1990 und 2020
Bringt man den geschilderten Transformationsdruck in Anschlag, haben die ländlichen Räume und vor allem die Dörfer hinsichtlich ihrer Selbstorganisationsfähigkeit seit der 1989er Wende enorme Verluste erlitten. Man kann nicht mehr einkaufen, fast alle Kulturhäuser sind geschlossen. Die Schulen und Kindergärten wurden auf wenige Standorte zurückgefahren, die Bahnlinien eingestellt, die Kneipen aufgegeben. Zwar entstand auch Neues: Die alten Häuser haben oft ihre einstige Schönheit wiedererlangt, es gibt noch und wieder ländliches Handwerk und mit Fördermitteln ist so manches Dorfgemeinschaftshaus gebaut oder saniert worden. Wie zur Kompensation der nachlassenden dörflichen Kraft schossen in den neunziger Jahren allerorten kleine Heimatstuben und Dorfmuseen aus dem Boden, die allerdings nun, da die Initiatoren der Nachwendezeit schwächer werden oder sterben, in ihrem Fortbestand gefährdet sind. Vor allem aber gibt es noch immer eine funktionierende kommunale Selbstverwaltung, auch wenn die Kommunalreformen ein ums andere Mal größere Einheiten erzwingen und die alte lokale Verbindung zwischen Wohnen und Lebensgestaltung schwächen.
Der ländliche Raum Brandenburgs hat sich dennoch, allen Krisen zum Trotz, eine gewisse Selbstorganisationsfähigkeit erhalten. Gemessen an der sozialen Zerrüttung, die möglich gewesen und in anderen Teil des Ostblocks auch zu beobachten war, ist man hier weich gefallen. Lag dies an den gewährten Fördermitteln, an ABM-Stellen und ländlichen Entwicklungsfonds? All dies hat sicher so einiges aufgefangen. Die abschließende These dieses Beitrags lautet allerdings, dass die einstigen Leiter oder leitenden Mitarbeiter der LPGen einen maßgeblichen Einfluss darauf hatten, dass die ländlichen Räume sich noch selbst verwalten und entwickeln können. Wie kann man ihr Handeln in den Jahrzehnten nach der Wende in ihren Dörfern, Gemeinden und Städten charakterisieren [11]?
- In den zurückliegenden 30 Jahren saßen sie in der Regel in den Stadtverordnetenversammlungen und Gemeindevertretungen und bewältigten gemeinsam mit Nachbarn und ehemaligen Kollegen als ehrenamtliche Abgeordnete den Umbau der ländlichen Gesellschaft.
- Sofern diese Akteure in betrieblicher Verantwortung blieben, agierten sie meist geräuscharm und besonnen und mit bescheidenen Erwerbsansprüchen. Gerade in den LPG-Folgebetrieben wurden im Interesse einer größeren Beschäftigung nur geringe Einkommen gezahlt – auch an die Betriebsleiter [12].
- Ein zentrales Augenmerk der Betriebsleiter lag auf der Erhaltung einer möglichst engen Verbindung zum jeweiligen Dorf, was zunächst der Notwendigkeit entsprach, das von den Bewohnern gepachtete Ackerland zu sichern. Es entsprach aber auch dem erlernten Selbstverständnis, im ländlichen Raum nicht nur betriebliche, sondern auch Gemeinwohlinteressen zu verfolgen [13].
- Gegenüber einem weit verbreiteten Vorurteil haben diese Akteure auch landwirtschaftliche Neuanfänge und vor allem subsistenzwirtschaftliche Ansätze in ihrem Umfeld meist unterstützt. Ausschlaggebend war die Einsicht, dass mit der fortschreitenden Suburbanisierung der Dörfer das Verständnis für die Landwirtschaft abnehmen und Konflikte zunehmen würden. Es ist deshalb trotz einer ausgeprägten Flächenkonkurrenz im Interesse der landwirtschaftlichen Betriebe, dass möglichst viele Menschen in den Dörfern eigene landwirtschaftliche Erfahrungen machen. In diesem Verständnis haben die Betriebsleiter auch meist gehandelt.
Ausblick
Was bleibt vom Wirken dieser Menschen – und an wen übergibt sie die selbst wahrgenommene Verantwortung in den Betrieben und in der ländlichen Gesellschaft? Diese Frage führt in eine schwierige Situation. Denn nur teilweise hat sich die nächste Generation dieser Familien entschieden, die Arbeit ihrer Eltern auf dem Acker, im Stall und im Dorf fortzusetzen. Die meisten Kinder der leitenden ostdeutschen Landwirte haben andere Berufe ergriffen und sind fortgezogen. Also blieb zunächst der Versuch einer innerbetrieblichen Erneuerung. Bei größeren Betrieben waren es oftmals die Feldbauleiter, die in der Rolle als Leiter nachrückten. Diese haben meist nicht die oben beschriebene Sozialisation als gesellschaftliche Verantwortungsträger erfahren, sie verfügen durchaus über die fachliche Qualifikation für eine Betriebsführung, erreichen aber meist eine geringere soziale Reichweite. So sind die letzten Jahre von der Suche nach geeigneten Nachfolgern für die Betriebe bestimmt, wobei die o.g. Ansprüche an deren Selbstverständnis und Funktionsweise eine große Rolle spielen. Diese Suche ist äußerst schwierig, denn es gibt kaum eine geeignete Sprache und nur wenige Indikatoren, mit denen sich eine entsprechende Eignung kommunikativ ermitteln lässt.
Es stellt sich jedenfalls heraus: Unsere Gesellschaft bildet ein derartiges breites Profil nicht mehr aus. Wer heute Landwirtschaft studiert, wird viel über die ökologische Agrarwende, über Betriebsmodelle und Vermarktungsmöglichkeiten erfahren – die Verantwortung für den ganzen ländlichen Raum aber rückt in den Status einer privaten Angelegenheit. Inwiefern es den Menschen auf dem brandenburgischen Land also gelingt, in ihren Dörfern jene zu finden und zum Einsatz für die ländliche Entwicklung ermutigen, die die zivilgesellschaftliche Herausforderung erkennen können, zwischen landwirtschaftlicher Produktion und ländlicher Gesellschaft zu vermitteln, ist also eine interessante Frage. Von ihrer Beantwortung hängt es ab, ob die Suburbanisierung der Dörfer ungebremst voranschreitet, oder ob sich das bäuerliche Vermögen, das ganze Dorf als menschliche Ressource zu sehen und zu entwickeln, noch einmal neu entfalten kann.
[1] Im Internet dokumentiert unter: https://archiv.oderbruchmuseum.de
[2] Siehe z.B. https://archiv.oderbruchmuseum.de/baustein-landwirtschaft/ oder Kenneth Anders und Lars Fischer, Landschaftswerkstatt Wasser – Wissenstransfer für einen zukunftsfähigen Landschaftswasserhaushalt in der Region Uckermark-Barnim, Croustillier 2014
[3] „Ohne technische Hilfsmittel und ohne Zugmittel, also ohne Tiere und Schlepper, musste alles von Hand verrichtet werden, uns standen nur die aus den Trümmern geborgenen Handwerkzeuge zur Verfügung.“ Klaus-Jürgen Künkel, Eine geflüchtete Bauernfamilie baut sich eine neue Existenz auf, in: In: Landwirtschaft. Jahresthema 2018 Oderbruch Museum Altranft, Croustillier 2018, S. 89
[4] „Die LPG hatten sie auch gerade erst gegründet. Arbeiter waren je erst mal keine mehr da, es musste alles erst aufgebaut werden. Die Pferde waren Krücken, die hatten sie von Hoppegarten geholt – Reitpferde. Die haben doch nicht gezogen, das waren die doch nicht gewöhnt!“ Kurt Mauder, Schwer war das alles, sehr, sehr schwer! In: Landwirtschaft. Jahresthema 2018 Oderbruch Museum Altranft, Croustillier 2018, S. 59
[5] „Die meisten Altbauern blieben zunächst selbständig oder machten Typ 1.“ Bernd Hoffmann, Jeden Tag wurde eine neue Sau durchs Dorf getrieben, in: Landwirtschaft. Jahresthema 2018 Oderbruch Museum Altranft, Croustillier 2018, S. 41
[6] Es ist übrigens vor allem dieser Komplex an Fähigkeiten, der den Bildungserfolg von Flüchtlingskindern aus den ehemaligen ostdeutschen Regionen erklärt. In beiden deutschen Staaten haben sich diese Kinder mit sehr schlechten materiellen, dafür aber mit sehr guten mentalen Voraussetzungen auf ihre schulischen und beruflichen Wege gemacht.
[7] „… ich habe die Kühe dort gesehen, auf der LPG. Ich wollte nicht dahin, für nichts auf der Welt. Die Augen haben sie denen ausgekloppt, bloß weil sie besoffen waren und sie nicht melken konnten.“ Anneliese Fehlberg, Bei mir hatten alle Kühe einen Namen, in: Eigensinn, Jahresthema 2021, Oderbruch Museum Altranft, Croustillier 2022, S. 26
[8] Dies galt auch noch für die folgende Generation, deren Berufsleben zur Wendezeit gerade erst begann: „Sowohl meine Großeltern als auch meine Eltern waren Landwirte. Mein Vater war in der LPG Pflanzenproduktion Groß Neuendorf Pflanzenbauleiter und meinte: „Lerne Landwirt“. Kein Mensch hatte Lust, eine landwirtschaftliche Ausbildung zu machen, ich auch nicht. Später hat es mir dann aber wirklich Spaß gemacht. Ich wollte eigentlich auch nie wieder ins Oderbruch, es hat mich eher in die weite Welt gezogen. Im Rahmen meines Studiums habe ich viele Regionen hier im Osten und auch viele aufgeschlossene und nette Menschen kennengelernt und wollte dann eigentlich in einer anderen Region tätig werden. Leider ist mein Vater jedoch schon während meines Studiums 1988 gestorben. Wir hatten zu dieser Zeit selbst einen kleinen Bauernhof, sodass ich neben meinem Studium nach dem Tod meines Vaters den Bauernhof bewirtschaftete und schließlich wieder ins Oderbruch zurückkehrte. Die politische Wende habe ich noch während meines Studiums in Berlin erlebt. Die LPG Groß Neuendorf hatte mich zum Studium delegiert, sodass ich schließlich nach Abschluss meiner Ausbildung dorthin wieder zurückkehrte. Diese LPG wurde dann in die Agrargenossenschaft ODEGA Groß Neuendorf eG umgewandelt. Zu Beginn meiner Tätigkeit war ich zunächst Brigadeleiter. Sehr angenehm für mich war in diesem Zusammenhang, dass ich die ehemalige Brigade meines Vaters übernehmen konnte. Die alten Kollegen meines Vaters haben mich sehr unterstützt.“ Detlef Brauer, Wirtschaften im Verbund, in: Landwirtschaft. Jahresthema 2018 Oderbruch Museum Altranft, Croustillier 2018, S. 53
[9] „Seit den 50er Jahren ging es uns immer besser. Die Feuerwehr konnte ich Fahrzeuge anschaffen, der Reitverein, die LPG – alle haben Fahrten gemacht und sich gefreut, in den Harz, in die Tschechei, an die Ostsee, in den Spreewald. Dann gab es die Geselligkeit, die Jahresendvergnügen zum Beispiel. Und mit dem Jugendclub haben wir gefeiert, alle haben etwas mitgebracht, ein Glas Leberwurst und Bockwurst oder so etwas, einer hat Musik gemacht oder welche vom Tonband mitgebracht, wir konnten uns sehr gut selbst helfen. Und 1982 wurde aus dem Jugendclub der Karnevalsverein.“ Karl-Heinz Matthes, Es gibt in einem Dorf immer viel zu tun, in: Menschen, Jahresthema 2020, Oderbruch Museum Altranft, Croustillier 2020, S. 193
[10] „…dabei haben wir uns nicht als Solitäre in der Landschaft betrachtet.“ Anka Goll, Wir wollten nicht schöner wohnen, sondern hier arbeiten, in: Bauen. Jahresthema 2019, Oderbruch Museum Altranft, Croustillier 2019, S. 55
[11] Ausdrücklich ist dies keine Bilanz der in der Nachwendezeit oft erbittert ausgetragenen Flächenkonkurrenz zwischen den alten und neuen Betrieben. Die damit verbundenen zehrenden Auseinandersetzungen und menschlichen Verletzungen fanden nicht in der Öffentlichkeit statt, eine allgemeine Bilanz lässt sich auf der Grundlage unserer Befragungen nicht ziehen.
[12] Es ist heute meist einträglicher, einen Feldbaubetrieb ohne Tierhaltung mit Vater, Sohn und ein paar Saisonkräften zu bewirtschaften, als das immer noch breitere Profil der Altbetriebe zu erhalten, welches mehr Beschäftigte braucht und wegen der chronisch niedrigen Milchpreise permanent gefährdet ist. Aus diesem Grund haben unterdessen viele Genossenschaften aufgeben müssen.
[13] Sei es der Einsatz der Landmaschinen auf dem Kirchfriedhof, die spontane Hilfe bei gebrochenem Fahrradrahmen in der Betriebsschlosserei oder die Zurverfügungstellung von Räumlichkeiten für private Feierlichkeiten.