Wer den Traktor nicht mag

Einige fragten mich, warum wir auf OderAmazonas nicht über die Bauernproteste schreiben. Bei mir ist der Grund, dass ich keine Landwirtin bin.  Jedoch schätze ich, wenn Leute über Themen schreiben, die sie aus eigener Anschauung kennen. Ein Problem der Bauern heute ist ja gerade, dass ihre Welt von der der Konsumenten ihrer Erzeugnisse so weit entfernt liegt wie noch nie. Auch ich kenne nur mickrige Ausschnitte daraus. Es sind nicht mehr als ein paar Gucklöcher, durch die ich hin und wieder Einblicke in die Sache von Bauern bekomme. Und zwar dann, wenn mir Landwirte oder Leute, die bei Landwirten arbeiten, davon erzählen. Dabei merke ich jedes Mal, wie unterschiedlich die Bauern und ihre Betriebe sind und wie verschieden demzufolge ihre Sicht auf die Dinge. 

Das ist – zugebenen – nicht viel. Warum schreibe ich nun doch? Weil ich darüber nachdachte, dass es ein vielversprechender Anfang sein könnte, darüber zu sprechen, wie wenig wir wissen. Darüber, wie unzureichend unsere Vorstellung davon ist, was eigentlich schief läuft – auf den Äckern und darüber hinaus – ganz zu schweigen davon, wie man es eigentlich besser machen sollte.

In den ersten Tagen der Proteste waren die Sympathien für die Bauern noch durch die Bank recht groß, so kam es mir vor. Die meisten Leute, mit denen man sprach, räumten dabei schnell ein, über die größeren Zusammenhänge überhaupt nicht Bescheid zu wissen. Das änderte sich bald. Wie bei allen Dingen, die eine Weile lang „It-Themen“ sind, um dann wieder in Vergessenheit zu geraten, haben die Deutschen eine seltsame Lust daran, Fakten aufzusaugen und sich mit ihnen aufzurüsten. Bei allen Konflikten, die durch die Medien gehen, wissen Millionen Zuschauer von Talkshows plötzlich, wo sich entlegene Orte in Krisengebieten befinden und welche Argumentationsketten welcher Konfliktpartei in die Hände spielen, welche Zahlen der einen zum Recht verhelfen und welche der anderen. Das Faktenwissen dient wie in einem Spiel dazu, die eine und die andere Seite zu bewerten. Es geht darum, Position zu beziehen.

Bei den Bauernprotesten ist die Materie im Grunde zu sperrig. Kein Mensch will wirklich wissen, auf welchen Börsen unter welchen Bedingungen Agrarprodukte gehandelt oder welche tausend verschiedenen Subventionen und Auflagen es gibt. Man merkte so richtig, wie schwer es den Sendern und Zeitungen fiel, einfache Fakten zu servieren. Solche, die die Dinge „einfach runterbrechen“, sodass sich die Menschen ein Urteil bilden können. Darüber, ob die Bauern im Recht sind oder nicht. Es dauerte nicht lang, dann war es so weit. In den Kneipengesprächen, an Küchentischen und in den sozialen Medien begannen die Leute mit ihren frisch aufgesogenen Fakten zu schießen. Dabei fällt auf, dass gerade jene, am vorhersehbarsten gegen die Bauern Stellung beziehen, die man auf Im Bioladen oder Wochenmärkten trifft. Ein beliebter „Fakt“ ist der Durchschnittsgewinn der deutschen Landwirte am Beispiel des Jahres 2023. Ich habe vergessen, ob es achtzig, hundert oder hundertzehntausend Euro waren. Jedenfalls klang es nach viel. Dieser „Fakt“ spielt am Berliner Kneipentisch, ganz klar gegen die Bauern. Welche Unverschämtheit, bei so einem Jahreseinkommen auch noch auf die Straße zu gehen! Privilegierte Zocker! Agrarbarone, die den Diesel auch ohne Subvention schmerzfrei bezahlen könnten. Wer die dicksten Traktoren hat, verlangt auch noch die größten Steuergeschenke.      

Würde es um Gastronomie gehen, würde allen sofort auffallen, dass der Durchschnittsgewinn aller Gastronomen in Deutschland – bei Licht betrachtet – gar nichts aussagt. Wenn, sagen wir, eine Reihe großer Hotelketten große Gewinne machen, besagt das ja nichts darüber, ob Wirte von Eckkneipen, Imbissbuden oder Dorfgaststätten über die Runden kommen. Eigentlich liegt das doch auf der Hand. Ginge es um Gastronomen würden auch alle schnell bemerken, dass Unternehmensgewinne keine Einkommen sind. Dass Gewinne im einen Jahr die Flauten im nächsten abpuffern müssen. Oder unkalkulierbare Ausgaben, wenn plötzlich neue Auflagen kommen. Oder was auch immer. Dass so viele Leute so einfache Fehlschlüsse nicht bemerken, zeigt, wie groß die Kluft zwischen denen ist, die auf den Feldern ackern und jenen, die über sie reden.

Es sind nicht nur einfache „Fakten“, sondern auch einfache Bilder, die zum fortgesetzten Missverstehen beitragen. Zum Beispiel kommt, ganz gleich in welchem Gespräch, zuverlässig etwa folgender Satz: „Ich wäre schon für die Bauern, aber ich sehe nicht ein, wieso man die industrielle Landwirtschaft schützen sollte. Ich bin für kleine Landwirte, die biologisch wirtschaften. Die EU-Subventionen finde ich scheiße, weil sie die industrielle Landwirtschaft auch noch fördern.“

Natürlich ist es wahr, dass die erste Säule der EU-Agrarpolitik ein bizarres Ding ist. Wie viel schöner wäre es – für alle Beteiligten – wenn Landwirte ihr Geld einfach mit ihrer Hände Arbeit verdienen könnten, frei von allen Begünstigungen und Gängelungen dieses Riesenapparats, gerne in kleinen, freundlichen Betrieben und bitte emissionsfrei. 

Aber lass uns einen Moment lang nachdenken. Wozu denn sind die Agrarsubventionen eingeführt worden? In der Bundesrepublik waren Agrarsubventionen anfangs dazu da, die Landwirtschaft zu modernisieren und den Hunger der Nachkriegsjahre in den Griff zu kriegen. Die Preise für landwirtschaftliche Produkte sollten daher in den Geschäften für jedermann zu bezahlen sein. Zugleich sollten die Subventionen die heimische Landwirtschaft schützen, weil aus anderen Ländern durch Technisierung und geringere Standards billigere Nahrungsmittel ins Land kamen. Absurderweise war die Folge der hochsubventionierten Modernisierungen, gepaart mit der Flurbereinigung, dass Bauern mit kleinen Betrieben, die man doch hatte schützen wollen, in Scharen pleite gingen. In der DDR brauchte es keine Subventionspolitik, um die LPGs vor Konkurrenz zu schützen. Aber die Industrialisierung der Landwirtschaft sowie das Schaffen größerer Feldeinheiten trieb man zeitgleich mit fast noch größerer Vehemenz voran. Mit dem gleichen Ziel, nämlich die Bevölkerung aus heimischer Produktion zu versorgen. 

Die negativen Folgen der Subventionspolitik sind bekannt. Abhängigkeiten, die Reduzierung der Bauern auf reine Rohstoffproduzenten. Das Verharren in Zuständen wie sie sind, weil man sich kaum noch – eigentlich fast gar nicht mehr – bewegen kann. Nichtsdestoweniger sind die Gründe für die Subventionen im Grunde geblieben: „Echte Preise“ für landwirtschaftliche Produkte könnte ein großer Teil der Bevölkerung schwerlich bezahlen, zumal wenn bestimmte Standards oder Haltungsnormen eingehalten werden sollen. Und der Druck, auf dem Weltmarkt mit billigen Agrarprodukten aus anderen Ländern zu konkurrieren, ist ja eher stärker geworden. Die Frage ist natürlich, ob man diesen Problemen anders begegnen könnte. Oder anders gesagt: Man müsste das. Die Frage ist: Wie?

Heute könnte jedenfalls ohne EU-Direktsubventionen – so aus dem Stand heraus – kaum ein deutscher Landwirtschaftsbetrieb bestehen. Besonders westdeutsche Nebenerwerbsbetriebe hängen von ihnen ab – kleine, niedliche Bauernhöfe also, die die Adenauerzeit überlebt haben und ihren Betrieb auch in der übernächsten Generation in ihrer Freizeit führen. Wer durch Süddeutschland fährt und dort all die kleinteiligen, hübschen Felder bewundert – diese Landwirtschaften bringen kaum etwas ein. Sie würden sofort dicht machen, wenn die EU-Direktsubventionen enden würden. Dass die Flächensubvention Bauern mit wenig Land im Verhältnis zu den Flächenriesen benachteiligt, besagt ja nicht, dass es für die kleineren Landwirte ohne sie ginge. Gänzlich egal kann die erste Säule der EU-Subventionen Landwirten sein, die Nischen bewirtschaften und entweder andere Förderungen bekommen oder ein kleines Kundensegment bedienen, das hohe Preise bezahlt und bereit ist, alternative Landwirtschaftsmodelle zu unterstützen.

Und die Industrialisierung der Landwirtschaft? Wie sonst sollte Landwirtschaft in einem hochindustrialisierten Land sein als ebenfalls automatisiert und auf Massenproduktion ausgerichtet? Wie seltsam, diesen Vorwurf gerade hier zu erheben. Auch die meisten Biolandwirte produzieren in großen Mengen  für großräumige Vertriebsstrukturen, fahren große Traktoren und brauchen sogar mehr Diesel als konventionelle Bauern, weil sie kein Glyphosat einsetzen und deshalb mehr mechanische Arbeit aufwenden müssen. Nur einmal habe ich einen Landwirt kennengelernt, der aus weltanschaulichen Gründen mit Pferden wirtschaftete. Das fand ich spannend. Man hält es ja heute kaum für möglich, dass das überhaupt funktioniert! Da kam ich ins Grübeln, ob man das nicht doch versuchen könnte. Und ob die Welt auf diese Weise besser, leiser und schöner werden könnte. Ich glaube: Das könnte sie. Bestimmt! Überhaupt bin ich einer der wenigen Menschen, die es interessant fänden, ob es uns gelingen würde, das Rad des technischen Fortschritts jedes Jahr um ein Jahr zurückzudrehen. Klar würden wir, bezüglich der Landwirtschaft, auf diese Weise zeitstrahltechnisch auch irgendwann in der Zeit der Anbindehaltung in preußischen Kuhställen herauskommen, was Kühe überhaupt nicht befürworten würden. Und auch dem menschlichen Fußvolk in der Landwirtschaft ging es früher ja nicht immer blendend. Aber spätestens ab dem Mesolithikum könnte es mir gefallen. Schade nur, dass ich in meinem Alter im Mesolithikum vermutlich längst nicht mehr am Leben wäre, weil beispielsweise eine Zahnentzündung mich hinweggerafft hätte. 

Der Weg zurück birgt also so seine Fallstricke. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass in der vorindustriellen Zeit nur ungefähr eine Milliarde Menschen auf der Erde lebten, jetzt aber etwa acht, die ernährt werden wollen – oder aber sich auflösen müssten. Ohne Maschinen, Kraftfahrzeuge und chemischen Pflanzenschutz dürfte das schwierig werden. 

Die Industrialisierung samt all ihrer Zurichtungen – wie der Entfremdung von der Produktion unserer Dinge und Nahrungsmittel, der Fremdbestimmung über die Zeit, der Reduktion von Mensch und Tier auf Funktionen, der Ausplünderung nicht nur der Rohstoffe – ist unserer Welt tief eingeschrieben. Sie aus ihr wieder herauszudenken, käme dem Versuch gleich, aus einem Rührei den Dotter zu entfernen. Die meisten Leute wollen das auch gar nicht. Auch jene nicht, die gerade so hämisch über die „industrielle Landwirtschaft“ reden. Kaum jemand käme auf die Idee, die Produktion oder den Vertrieb unserer Wohlstandsgüter entindustrialisieren zu wollen. Nur bei der Landwirtschaft zuckt etwas in uns, wenn wir Felder mit schnurgerade gezogenen Furchen bis zum Horizont sehen, auf denen kaum mehr ein Ackerstiefmütterchen wächst und keine Hummel fliegt. Dann blitzt etwas auf in uns und wir denken: Hier läuft etwas gewaltig schief! Vielleicht, weil das Bestellen von Land etwas so Archetypisches ist. Von der Landwirtschaft erwarten wir, ohne uns das bewusst zu machen, um uns gut zu fühlen, einen Zustand vor dem Sündenfall. 

Wer möchte, dass die Landwirtschaft anders wird, sollte genauer hinsehen. Nicht nur auf die Landwirte, sondern auch auf den Rest. Am besten fängt man bei sich selbst an. Der Faktenchecker, der mir sagte, wegen der Emissionen müsse der Agrardiesel weg, fliegt selbst zwei bis drei Mal im Jahr in den Kurzurlaub. Er bestellt bei Lieferdiensten, seinetwegen fahren Lastwagen wegen Einzelsendungen, die er im Internet bei Spezialhändlern ordert, viele hundert Kilometer über die Autobahn. Und ich würde ihn auch nicht dafür steinigen. Denn so läuft es halt in unserer seltsamen Kultur.

Aber ich freue mich über jede und jeden, der sie verändert, indem er seinen „eigenen Acker bestellt“. Ich freue mich über Leute, die genießen, ohne dazu etwas zu kaufen, die selbst ein Haus renovieren, statt ein Fertighaus zu bestellen, die selbst Tiere halten, statt über Tierhaltung zu reden. Ich freue mich über Landwirte, die andere Wege ausprobieren. Ich bin auch gar nicht so pessimistisch, dass sich Dinge verändern können, eine Kultur, eine Lebensweise, ganze Systeme. Das ist ja auch in der Vergangenheit schon geschehen. Aber das braucht viel Zeit. Weder hilft es, nach einfachen Wahrheiten zu suchen, noch Sündenböcke auszumachen.

Das System der ersten Säule der EU-Subventionen ist krank, ganz klar. Aber wer es ändern will, muss es so tun, dass die Bauern das mitmachen und gestalten können. Im Moment müssen Bauern den Eindruck gewinnen, es gebe auf der einen Seite sie – allein auf dem Acker. Und auf der anderen Seite eine Schar von Daumen-hoch, Daumen-runter Schiedsrichtern, die aber nichts wissen und auch nichts wissen wollen. Was ist das für eine Politik, das fragwürdige Brett, auf dem die Bauern stehen, einfach nur ein Stückchen anzusägen? Statt gemeinsam einen Plan zu entwickeln? Wie soll man das anders verstehen, als dass auf das erste Stückchen bald das nächste folgen wird? Und dann das übernächste? 

Das urteilsfreudige Publikum weiß einstweilen aus dem Fernsehen genau, wie viel Prozent des Jahreseinkommens der Landwirte die Subvention der Agrardieselsteuer ausmacht. Und dass die Mehrheit der Bauern auf sie verzichten könnte, ohne unterzugehen. Das stimmt vielleicht sogar. Aber die Bauern sind eben auch nicht blöd. Sie verstehen recht gut, welche Zukunft da auf sie wartet. Nämlich eine ohne sie. 

Denn so schlecht die Direktsubventionen sein mögen, wenn sie wegfallen, ohne dass wirklich tragfähige andere Lösungen gefunden werden, wird es zwischen kleinen bäuerlichen Projekten einerseits und reiner Flächenbewirtschaftung – aber ohne Feldfrüchte – bald nichts mehr geben. Auf der einen Seite Projekteure, die eine Hand voll Ziegen halten und Käse machen, indem sie es irgendwie schaffen, das Ganze als Bildungsprojekt zu verkaufen. Oder Solawis (Solidarische Landwirtschaften), die auf einem Hektar Land Gemüse produzieren, mit dem sie ein städtisches Nischenpublikum beliefern. Und auf der anderen Seite Flächenwirte – Bauern braucht es dann nicht mehr – die Land bewirtschaften, indem sie Photovoltaikanlagen aufstellen. Denn die sind renditeträchtiger als das ganze Zeug, das wächst, im schlechtesten Falle verdorrt oder hin und wieder im Regen ertrinkt. Man braucht auch keinen Agrardiesel dazu. Und wenn es soweit einmal ist, wird nach und nach in Vergessenheit geraten, dass diese Flächen früher mal Felder waren.

Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen in euren Wohnzimmern mit euren ganzheitlichen Vorstellungen von einer guten Landwirtschaft. Bevor ihr die großen, hässlichen Traktoren verdammt, besteigt mal einen und guckt euch die Welt von dort aus an. Manches wird nicht ganz so aussehen, wie wir es uns wünschen. Aber vielleicht werden wir das, was wir da jetzt noch sehen, in nicht allzu ferner Zukunft vermissen.

8. Februar 2024