Ich war acht Jahre alt, als meine Eltern mit mir in das brandenburgische Eberswalde zogen. Rings um Berlin war damals in den mittelgroßen Städten die Sowjetarmee stationiert, so auch hier. Soldaten, Armeefahrzeuge und Offiziersfrauen waren im Straßenbild omnipräsent, letztere waren auch zu riechen, eine Mischung aus Fliederparfüm und Knoblauch. Im Umfeld der Garnison gab es mehrere Geschäfte, in denen auch die Deutschen einkaufen durften. Das russische Wort für „Laden“ ist „Magasin“, die Geschäfte wurden von den Eberswaldern „Russenmagazin“ genannt. Wir kauften dort russisches Konfekt, Ketchup und Eisenbahnertaschenlampen. Zum Leichtathletikunterricht ging unsere Schulklasse erst durch den Wald und dann durch ein Loch in der Kasernenmauer in ein Armeestadion mit großen Skulpturen muskulöser nackter Männer und Frauen, alle immer frisch mit Silberbronze gestrichen. Es handelte sich dabei um Werke des Nazi-Bildhauers Josef Thorak, die eigentlich einmal für Hitlers Reichskanzlei hergestellt worden waren. Aber das wussten wir damals nicht, und es schien, als passten sie durchaus hierher.
In meinem Viertel waren die Fassaden noch von den letzten Kriegstagen durchlöchert. Die fehlende Scheibe unserer Kellertür hatte man hatte durch Sperrholz mit kyrillischen Schriftzügen ersetzt. Der Krieg war nicht lange her, das spürten auch wir Kinder. Überall gab es Kriegsversehrte, Männer, denen ein Bein oder ein Arm fehlte, oder mit schweren Kopfverletzungen. Der Umgang mit Fundmunition gehörte zu den Belehrungen an jedem Schulbeginn im September.
Überall war also fremdes Militär, und niemand wäre auf die Idee gekommen, dass es vielleicht einmal wieder abziehen würde. Allen war es bewusst, dass diese Einheiten sofort auffahren würden, wenn es zum Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse käme, das war ja in der Geschichte des Ostblocks auch schon mehrfach geschehen. Kontakt zu den Menschen, die hier stationiert waren, hatten wir deshalb zunächst wenig, die direkte Begegnung war auf Momente beschränkt. Diese Menschen waren als Besatzer hier. Manchmal besuchten wir die Mittelschule der Garnison, ein Junge namens Juri trainierte mit mir im Schwimmclub. Er konnte sehr schnell schwimmen und wir mochten ihn. Aber, von solchen Ausnahmen abgesehen, gab es eigentlich nur offizielle Beziehungen. Freundschaften waren nicht erwünscht.
Dennoch empfanden die Ostdeutschen Empathie und Mitleid für die Soldaten. Man wusste, wie hart sie in ihren Einheiten behandelt wurden, wie wenig sie ihr Eigen nannten, wie jung sie oft waren, getrennt von ihren Familien und weit, weit weg von zu Hause. Man erzählte sich, dass jene, die die Nerven verloren und von der Truppe flohen, meist den Tod fanden. Das kam immer wieder vor.
Das Verhältnis zu diesen Menschen war überhaupt sehr komplex. Kaum jemand hätte in Zweifel gezogen, dass die Bevölkerung der Sowjetunion – ich muss diese Bezeichnung hier einmal so wiedergeben, denn es waren eben nicht nur Russen – einen unfassbaren Preis für die Niederringung des deutschen Naziregimes bezahlt hatten. Man wusste außerdem, welche namenlose Gewalt diese Völker selbst hatten ertragen müssen, und zum Teil noch ertrugen. Man wusste, wer Stalin gewesen war, und also lernte man nun, im vorsichtigen Kontakt mit den anderen, dass das Menschliche selbst dort gedeihen konnte, wo es auf so gespenstische Weise und über lange Zeiträume verschreckt worden war.
Zugleich gab es unter den Deutschen viele, die durch den Krieg auch selbst ein schweres Leid erlitten hatten, durch Vergewaltigung in den letzten Kriegstagen etwa, worüber erst in den letzten DDR-Jahren öffentlich gesprochen werden konnte. Und es lebten natürlich auch viele Menschen in der DDR, die ihre Heimat in der neuen Aufteilung der „sozialistischen Bruderstaaten“ verloren hatten. Dennoch kann ich mich an keine unterschwellige Feindseligkeit erinnern. Zugegeben, es gab keine freie Rede, in der diese Beziehung entwickelt wurde, aber es gab ein Bewusstsein davon, dass die Leute in der DDR, nun, da alles neu geordnet war, da viele Industrieanlagen als Reparationsleistungen weit nach Osten geschafft worden und neue Grenzen gezogen worden waren, schneller zu einem gewissen Wohlstand gekommen waren, als „die Russen“. Manche sahen deshalb sogar auf diese herab, viel Resonanz für solche Andeutungen gab es aber nicht.
Zudem, und das ist vielleicht das Wichtigste, war das Auftreten dieser Menschen in der Öffentlichkeit nicht unangenehm. Die meisten waren freundlich, sie liebten die Kinder. Ich lernte in einer Klasse mit erweitertem Russischunterricht. Das bedeutete, dass man schon ab der dritten und nicht erst ab der fünften Klasse die russische Sprache erlernte, noch dazu in einer höheren Intensität. Meine Eltern waren nicht unbedingt erpicht darauf, dass ich Russisch lernte, aber sie sahen mich wohl gern unter Schülern mit einem höheren Leistungsdurchschnitt. Denn dieser war die Voraussetzung dafür, in einer solchen Klasse lernen zu können. Hier hatten wir jedenfalls zwei Russisch-Lehrerinnen, eine Deutsche und eine Russin. Die Russin hieß Ludmila Wlatislawnowa Jegorenkowa. Sie stammte aus Riga, war dicklich und gütig, und sie unterrichtete hervorragend. Wenn jemand etwas gut machte, nannte sie ihn „Molodjez“ – Prachtkerl. Sie konnte sich auch über uns ärgern, aber sie tat das in einer sehr authentischen Weise, die man schlecht abweisen konnte – mit Herz. Ich weiß noch, wie eine Mitschülerin sich einen Mückenstich kratzte und Ludmila ihr zeigte, dass man den Juckreiz mildern konnte, indem man mit dem Fingernagel ein Kreuz in die Haut drückte und dann seinen Speichel auftrug. Das war eine ungewohnt vertrauliche Geste, voller Freundlichkeit. Ich weiß, das ist nur eine Anekdote, aber so wie Ludmila empfanden wir viele der bei uns lebenden Russen.
In der öffentlichen Begegnung war das Verhalten zurückhaltend und respektvoll. Und wo es zu direkten Begegnungen mit Soldaten kam, etwa beim Schwarzhandel mit Benzin oder Zigaretten, herrschte ein unkomplizierter und pragmatischer Ton. Es gab wenig Argwohn. Ich kann mich nicht erinnern, dass es beim kleinen Grenzverkehr mit den Russen zu Unehrlichkeiten oder Betrug kam. Das mag es gegeben haben, aber es muss selten gewesen sein.
Ich denke, wenn die Ostdeutschen heute auf den Ukrainekonflikt schauen, dann spielen all diese Erfahrungen und widersprüchlichen Empfindungen eine Rolle.
Sie wissen, wie grausam und ungerecht ein Krieg ist.
Sie wissen, dass mit der russischen Macht nicht zu spaßen ist.
Sie maßen sich auch nicht an, das gegenwärtige politische System in Russland und seine Ziele in diesem Krieg zu beurteilen.
Aber sie sind vorsichtig, denn sie sind damals, mehr oder weniger unfreiwillig, eine seltsame Bindung zu diesen Menschen und ihrer Kultur eingegangen, für die nun, in der Propaganda des Krieges, kein Winkel mehr frei zu sein scheint. Die eigene Geschichte, die sie mit den Russen verband, war 1994 friedlich zu Ende gegangen. Geräuschlos und korrekt waren die Soldaten abgezogen, es war beinahe ein freundlicher Abschied gewesen, mit dem sich viele Hoffnungen verbanden. An diesen Hoffnungen wurde nicht weitergearbeitet, das ist leider so. Es ist, was uns anbetrifft, eigentlich etwas offen, das noch gesagt werden müsste.
Die Ostdeutschen haben ein Misstrauen gegen die Feindseligkeit, die derzeit geschürt wird. Sie wissen noch, welcher Preis dafür zu zahlen ist. Dass mit einer Parteinahme in diesem Krieg auch gleich alles Russische aus der öffentlichen Kultur verbannt wird, weckt ihr Unbehagen.
Seit mehr als einem Jahr spuken russische Worte und Satzfetzen durch meinen Kopf, als käme etwas wieder nach oben, das lange nicht beachtet worden war. Erstaunlich, was ich alles noch weiß, wie vertraut Manches ist. So viele Worte, so viele Klänge.
Ich weiß, das sind alles keine Argumente. Es sind nur Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühle. Wie Johannes Bobrowski sagte: „Vielleicht sind Gefühle etwas Unsicheres, aber es hilft nichts, man muss sich schon auf sie verlassen.“